Für viele, wenn nicht für die meisten Menschen der westlichen Welt, stellt die Rede von Gott heute eher eine Unmöglichkeit dar. Mit dieser Ausgangsposition rechnet auch der Philosoph Holm Tetens. In unserer wissenschaftlich geprägten Zeit, so der an der Freien Universität Berlin lehrende Professor, macht sich jemand, der im akademischen Umfeld ernsthaft über Gott nachdenken will, ähnlich verdächtig als wenn er Frau Holle für ein reales Wesen halten würde. Dennoch lautet der Titel seines Buches „Gott denken“. Tetens setzt damit zu nichts Geringerem an denn zu einer „rationalen Theologie“, wie der Untertitel lautet. Dass so etwas überhaupt möglich sein soll, rational – also vernünftig – über Gott zu denken, dürften indessen nicht nur eingefleischte Materialisten (Tetens spricht lieber von „Naturalisten“) bezweifeln, sondern auch nicht wenige religiöse oder spirituelle Menschen, die zwar an Gott glauben, dies aber vor allem als Sache des Gefühls oder des „Spürens“ ansehen und das Denken eher als Störfaktor einschätzen. Nicht so Holm Tetens, im Gegenteil. Einer seiner verblüffenden Gedanken liegt gerade darin, dass es zur konsequent gedachten Idee Gottes gehört, dass sie eben auch denkbar ist, ja mehr noch: „Gott denkt sich selbst durch den Menschen“, sagt Tetens. Aber der Reihe nach.
Naturalismus als Metaphysik
Wo nimmt Tetens den Ausgangspunkt, die Denkbarkeit Gottes zu verfolgen? Er bestreitet nicht, dass die großen philosophisch-theologischen Gottesbeweise gescheitert sind und die herrschende Weltsicht des Naturalismus keinen Raum für metaphysische Annahmen lässt. Aber genau hier setzt Tetens an. Denn der Naturalismus selbst sei keineswegs eine voraussetzungslos aus den Resultaten der Wissenschaften folgende, wie selbstverständlich gültige Position, sondern beruhe selbst auf einer metaphysischen, unbeweisbaren Grundannahme: Nämlich der, dass die Welt aus zufällig entstandenen, rein physikalischen Tatsachen bestehe. Diese Annahme ist aber keineswegs das Ergebnis der Wissenschaft, sie bildet vielmehr ihre Voraussetzung. Aus dieser Wissenschaft mit eben dieser Voraussetzung resultiert dann zwangsläufig die Anschauung, wonach die Welt aus zufälligen, objektiven physikalischen Tatsachen erklärbar ist. In diesem Weltbild klafft jedoch eine wesentliche Lücke. Sie betrifft die Rolle jener erlebnisfähigen Wesen, die solche und andere Erklärungen überhaupt abliefern. Denn diese sind keineswegs als „objektive“ Phänomene in Art äußerer Tatsachen erklärbar. Rein erfahrungswissenschaftliche Beschreibungen der Welt, die das Phänomen „selbstreflexiver Ich-Subjekte“ (Tetens) ausklammern, sind aber notwendig unvollständig. Dass die meisten Menschen es weder bemerken noch dass es sie zu stören scheint, wenn die Rolle ihres eigenen Bewusstseins wissenschaftlich komplett ausgeklammert wird, macht die Sache nicht besser. Zu welchen Widersprüchen es führt, die mental-geistige Dimension rein aus physikalischen Sachverhalten erklären zu wollen, hat zuletzt das Buch „Geist und Natur“ des bekannten Philosophen Thomas Nagel gezeigt, auf den sich auch Tetens beruft. Da der Naturalismus also weder voraussetzungslos dasteht noch so eine entscheidende Frage wie das Leib-Seele-Problem zu lösen in der Lage ist, will Tetens einer anderen Denkmöglichkeit nachgehen: Der These nämlich, dass die Welt und die Position des Menschen darin einschließlich seines Erkennens und Handelns Ergebnis einer göttlichen Ordnung ist.
Unendlichkeit denken
Die These Gott an den Anfang zu stellen bedeutet nun keineswegs, hier den sprichwörtlichen Deux ex machina zu bemühen und die Welt anstelle mit harter Wissenschaft durch einen naiven Kreationismus zu erklären. Tetens sieht Gott vielmehr als den „Urgrund des Seins (der Wirklichkeit), er ist die alles bestimmende Wirklichkeit“. Tetens greift hier die Philosophie des deutschen Idealismus auf und bestimmt Gott im Rückgriff auf Hegel als ein „unendliches Ich-Subjekt“, das „weder epistemisch (die Erkenntnis betreffend) noch in dem, was es will, durch etwas beschränkt und begrenzt ist, was es selber nicht ist“. Das ist zunächst vor allem eines: schlüssig denkbar. Der aus der Tradition bekannte Begriff der göttlichen Allwissenheit wird in philosophischer Perspektive zu dem Gedanken, dass Gott als unendliches Wesen alles zu denken und zu erkennen vermag. Gottes Denken ist uneingeschränkt vernünftig, so Tetens. Das eröffnet umgekehrt auch die Perspektive, dass wir Menschen durch unsere Vernunft tatsächlich Gottes Schöpfung – in Form der Naturgesetze vor allem – auch erkennen können. Die Weltordnung eines unendlichen, allwissenden und allmächtigen Gottes kann gar nicht anders beschaffen sein als so, dass der Mensch in ihr die Möglichkeit des Erkennens hat.
Anders als im Rahmen des Naturalismus, wo der Mensch als verlorener Irrläufer in einem sinnlosen Universum gilt, erscheinen in diesem theistisch-idealistischen Entwurf Gott, Welt und Mensch innig aufeinander bezogen. Tetens gibt sich daher auch offen als ein Vertreter des – oft geschmähten – anthropischen Prinzips zu erkennen. Demnach ist „das physikalische Universum von Anfang an darauf angelegt (…), dass in ihm eines Tages Menschen in Erscheinung treten, für die es wesentlich ist, im Gedankenaustausch miteinander zumindest partiell das Universum intersubjektiv zu beobachten und zu erkennen… Materie soll erkannt, bearbeitet, umgestaltet, verschönert werden und in all diesen Tätigkeiten mit Geist erfüllt und zum immer klareren Ausdruck des Geistes werden“.
Freiheit und „Gericht“
Zur Göttlichkeit der Welt gehört auch die Möglichkeit der Freiheit des Menschen. Hier nähern wir uns dem herausfordernden Feld der Theodizee, zu welchem Tetens ebenfalls überraschende Perspektiven eröffnet. Gott will als Allmächtiger alles, was der Fall ist – aber nicht alles was der Fall ist, wird von ihm auch gut geheißen. Manches lässt er nur zu – die Möglichkeit menschlicher Verfehlung vor allem, weil ohne sie keine freie Moralität möglich wäre, sondern nur ein moralischer Automatismus. Das saubere Herausarbeiten dieser Konstellation von Gottes Wille, Freiheit und moralischer Verfehlung geht weit über das oft platte Konstatieren einer „Notwendigkeit“ des Bösen in der Welt und irgendwelchen im Weltenplan vorgesehenen Opfern hinaus. Gott will, dass die Schöpfung am Ende gut wird – dafür braucht es echte Freiheit mit der Möglichkeit des Bösen.
Die höchsten Gipfel erreicht der Gedankengang von Holm Tetens, wenn er das Thema Erlösung behandelt – eine Dimension, die unzweifelhaft notwendig zur Idee eines unendlichen und unendlich machtvollen Wesens dazugehört. Wem sich vielleicht bisher schon die postmodernen Haare gesträubt haben mögen, dem werden sie sich erst Recht im Nacken aufstellen wenn Tetens nun zum Konzept der Erlösung auch noch den traditionell-religiösen Begriff des „Gerichts“ bemüht. Tatsächlich folgert Tetens, dass die von Gott gewollte Schöpfung ohne ein Gericht gar keinen Sinn ergibt: Ohne ein „Gericht“, bei dem es allerdings für Tetens weniger um finale Bestrafung denn um Einsicht, Versöhnung und Vergebung geht, „wäre Erlösung ein Geschehen, in dem die Menschen gar nicht als vernünftige und selbstverantwortliche Personen ernst genommen würden. Wer vom Gericht nicht reden will, sollte daher von Erlösung schweigen.“
Es ist spannend, dass der Gedanke einer – wie auch immer gearteten – nachtodlichen Existenz des Menschen sich hier als Konsequenz einer gerechten, auf Erlösung zielenden Weltordnung ergibt. All die unbeschreiblichen Untaten, all das verübte und erlittene Unrecht auf Erden wird nicht das letzte Wort sein. Eine göttliche Ordnung kann und wird „niemanden endgültig verloren geben“, zitiert Tetens ein wunderbares Wort Walter Benjamins – und weist nicht nur damit auf das unvergleichliche Quantum Trost, das von einer mit Gott gedachten Welt ausgeht.
Ausblicke von Gipfeln
Holm Tetens Buch ist eine Einladung im besten Sinne, ohne jeglichen missionarischen Anflug des Überzeugen-Wollens und im permanenten Bewusstsein der möglichen Einwände geschrieben, die in einer naturwissenschaftlich geprägten Zeit so nahe liegen. Seine dichten, knapp 90 Seiten eignen sich weniger für leicht zustimmungsfähige Facebook-Postings über Gott, sondern bieten hartes Denkbrot, das über manche Strecken eher an Mathematik als an Theologie erinnert. Gerade durch die nüchterne, sich seiner Grenzen stets bewusste Zurückhaltung des Autors führt das Buch in eine Tiefe, in der man immer wieder darüber staunt, nur durch konsequentes Denken in sie hineingeraten zu sein. Die so gewonnenen Ausblicke auf das Wesen Gottes haben die Wirkung mühsam erkämpfter Gipfelpanoramen, sie sind ebenso weit entfernt von Kirchentags-Religiosität wie auch von mancher sich spirituell nennenden Rede von Gott, die das Ausblenden der denkenden Vernunft aus dem Umgang mit dem Höchsten für einen Vorteil hält. Wer in seinem eigenen Suchen nach Gott dem Denken Raum geben möchte, wird dieses Buch mit Gewinn lesen.
Holm Tetens: Gott denken. Ein Versuch über rationale Theologie. Reclam Stuttgart 2015, 96 Seiten, € 5,-