Es gibt Bücher welche die Kraft haben, die bisherige Sicht der Dinge infrage zu stellen. Ein solches Buch ist für mich die Neuerscheinung „Alle Schöpfung ist Werk der Natur“, die ich im Zuge meines Lektorats bereits vor ihrem Erscheinen intensiv kennenlernen durfte und die jetzt pünktlich zur Leipziger Buchmesse herauskam. Der Titel klingt zunächst einmal eher harmlos: Es ist ein Goethe-Zitat, das inhaltlich unverfänglich erscheint, denn was sollte – von einem aufgeklärten Standpunkt aus betrachtet – die Schöpfung sonst sein wenn nicht das Werk der Natur?
Und doch hat dieses Buch von Axel Ziemke in fundamentaler Weise mein Verständnis von Evolution verändert. Deren Grundidee, also die Entstehung sämtlicher Lebewesen auf dieser Erde durch natürliche Abstammung von niederen zu höher entwickelten Arten, stand für mich selbstverständlich auch vor der Lektüre nicht in Frage. Wohl aber das Erklärungsmodell der Neodarwinisten, die das evolutionäre Entstehen neuer Formen allein durch zufällige Mutationen und daran anschließende Selektionsprozesse erklären. Die rein mathematisch extreme Unwahrscheinlichkeit überlebensfähiger Mutationen und der Widerspruch zwischen sinnvoller Funktionalität z.B. von Organen und der angeblichen Willkür ihrer Entstehung hatten mich noch nie überzeugen können – und das Argument, dass man ja keine alternativen Erklärungen habe und sonst womöglich wieder beim lieben Gott oder dem Intelligent Design lande, war mir zu schwach.
Ziemke zeigt nun minuziös eine Strömung innerhalb der modernen Evolutionsbiologie auf, die die bisher rätselhaft bleibende Entstehung des Neuen in der Evolution und das Auftreten von „Sprüngen“ erklärt und beschreibt etwas, das man mit Fug und recht einen Paradigmenwechsel in der Evolutionsforschung nennen kann: Demnach prägen nicht die Gene und ihre zufälligen Mutationen die schrittweise Entwicklung der Lebewesen, vielmehr ist es das Verhalten der Organismen, ihr Reagieren auf veränderte Umweltbedingungen, das zum Auftreten veränderter Organe und auch Arten führt und erst anschließend auch genetisch fixiert wird. Insbesondere am Problem der Entstehung des aufrechten Gangs zeigt Ziemke, wie die von der Eigenständigkeit des Organismus aus gedachte evolutionäre Dynamik wirkt, aber auch in vielen anderen Phänomenen der Pflanzen- und Tierwelt geht er dieser neuen Sichtweise nach.
Für mich war bislang – trotz des Erklärungsdefizits des eigentlichen „Motors“ von Evolution – der emanzipatorische Impuls des Evolutionsdenkens von zentraler Bedeutung gewesen, der die Entstehung der Arten, ganz im Sinne Darwins, als ein rein innerweltliches Geschehen verständlich werden lässt. Auch ein Rudolf Steiner hatte diesem Impuls vollkommen zugesprochen als er in seinem Buch über die Erkenntnistheorie der Goetheschen Weltanschauung sinngemäß meinte, der Weltengrund habe sich vollständig in die Welt ausgegossen, er treibe sie von innen, und der Freiheit des Menschen zuliebe müsse jeder Glaube an eine metaphysische Weltenlenkung aufgegeben werden. Das ist ganz goethisch gedacht, denn auch der Dichter und Forscher aus Weimar suchte nichts hinter, sondern alles in den Phänomenen – und so ist es letzten Endes doch ein revolutionär aufklärerisches Wort, wenn Goethe sagt: „Alle Schöpfung ist Werk der Natur“.
Gleichzeitig ist diese Sicht auf die Natur keineswegs gleichbedeutend mit ihrer Entzauberung, im Gegenteil: Es beginnt mit der Lektüre dieses Buches ein neues Gesamtbild von Evolution vor das Auge zu treten, das weder auf die konventionell-materialistische Zufallsentwicklung noch auf vor-aufklärerische, von irgendwo außerhalb gesteuerte Eingriffe zurückgreift. Es ist vielmehr ein Bild, in dem zunehmendes Lernen und wachsende Bewusstheit sich in biologischen Prozessen und Funktionen selbständig organisieren und erhalten – ein Bild von „Geist in Aktion“ also, wenn man so will, der aber nicht von außerhalb, sondern ganz innerhalb des Lebens, und zwar bis in seine genetischen Funktionen hinunter verankert ist.
Die Wirkung dieser die Stofflichkeit umwandelnden und von „innen“ heraus durchdringenden Kraft ist mit einer klassischen Definition die des „schönen Scheins“. Axel Ziemke überrascht am Ende seines Buches mit diesem Gedanken und führt die Schönheit als evolutionäre Kategorie ein. Dies nicht etwa mit dem trivialen Ziel, der Schönheit (die wir doch seit Kant gerade als zweckfrei verstehen) irgendeinen evolutionären Nutzen unterzuschieben, sondern vielmehr in dem Sinne, dass die zunehmende Durchdringung der Stofflichkeit in immer differenzierteren und höheren Formen zu ihrem schönen Scheinen führt. Man darf hier von einer originären und innovativen Fortschreibung des Evolutionsdenkens sprechen, die Ziemke mit seinem Buch gelungen ist, und die keineswegs Theorie bleibt, sondern zu einem neuen Blick auf die „Schöpfung“ führt.
Axel Ziemke: Alle Schöpfung ist Werk der Natur.
Die Wiedergeburt von Goethes Metamorphosenidee in der Evolutionären Enticklungsbiologie
190 Seiten, Broschur
Illustrationen von Sarah Müller
€ 19,90
ISBN 978-3-95779-030-9