Sprachliche Dichte, massive Bedeutungsgeladenheit, schwärmerische Männerfreundschaft und viel Trakl-Poesie gibt es in diesem wohl überraschendsten Roman des Jahres zu verdauen. Er hat manche befremdet, aber auch viele, die in seinen Strom einmal eingetaucht sind, nicht mehr losgelassen. Für „Kruso“ erhielt Lutz Seiler den Deutschen Buchpreis 2014.
Die Geschichte spielt auf der Ostseeinsel Hiddensee im Sommer 1989. Ihre Akteure gehören zur Szene der Aushilfskräfte während der Feriensaison. Was man von außen leicht als den üblichen Urlaubsbetrieb wahrnehmen könnte, ist aber von Beginn von einem Subtext geprägt. Denn die Kellner, Köche und Küchenhelfer, allesamt im früheren Leben Literaten Philosophen und Lebenskünstler, bilden eine Art Bruderschaft, die ihren Hauptsitz in einer Gaststätte hat, die nicht zufällig den Namen „Der Klausner“ trägt und auf dem Gelände einer ehemaligen Einsiedelei liegt. Und keine bloße Laune ist es, dass es gerade zwölf Menschen sind, die seine „Besatzung“ bilden, geleitet von einem „Direktor“, den der Autor allerdings seine Anweisungen so dahersprechen lässt als wäre er der Abt eines Klosters („Das Auf und Ab seiner weichen, auf Kopfhöhe erhobenen Hand erinnerte Ed an die Erteilung des Segens“). Die monastisch wirkende Gemeinschaft der „Arche“ kümmert sich – neben den Urlaubern – um die „Gestrandeten“, wie sie hier auch heißen. Gestrandet auf der Insel sind sie, weil sie dem System der Unterdrückung in ihrem Land bis hierhin entfliehen konnten und hier den Sommer in einer anderen Realität verbringen. Dass ausgerechnet das prosaische Alltagsleben der DDR („zweimal Perso-Frühstück am Perso-Tisch“, mit Mischbrot und Konfitüre vom Block geschnitten) den Hintergrund dieser mystischen Suche abgibt, ist ein Geniestreich sondergleichen.
Wann hat uns zuletzt jemand so erzählt über eine verschworene Gemeinschaft, über den „Gral“, über Pilgerschaft und Einweihung und, nicht zuletzt, über innere Freiheit? Denn um das Realisieren existenzieller Freiheit dreht sich alles an diesem Ort, der eine letzte Grenze bildet: „Wer hier war, hatte das Land verlassen, ohne die Grenze zu überschreiten“, heißt es einmal. Die Gestrandeten haben die Ausweglosigkeit ständig vor Augen – sie liegt physisch vor ihnen in Gestalt des dänischen Festlands, das bei guter Sicht rund 50 Kilometer entfernt mit seinem freien Gestade winkt.
Neben dem seinem Studium entflohenen Ed aus Halle ist Kruso Hauptperson und Namensgeber des Romans, halb russischer Herkunft und nicht ganz von dieser Welt. „Strenge, Keuschheit fast und Selbstbeherrschung“ kennzeichnen ihn. Er lebt vom Klausner aus seine eigenwillige Mission der Dienstbarkeit gegenüber jenen, die er hier zu einem Orden heranführen will, zu einem „Bund der Eingeweihten (…) eine Art Untergrund zur Anhäufung innerer Freiheit, eine geistige Gemeinschaft“. Tatsächlich befreien er und die Abwäscher des Klausners in ihren gewaltigen Spülbecken nicht nur die Teller von Essensresten, sondern nehmen hier auch die Neuankömmlinge mit rituellen Waschungen in Empfang. Kruso kümmert sich um all jene, die aus dem System geflohen sind und hier buchstäblich nicht mehr weiterkönnen. „Die Insel (…) ist der Ort, wo sie zu sich selbst kommen“, ist er überzeugt, „wo man zurückkehrt in sich selbst, das heißt zurück zur Natur, zur Stimme des Herzens, wie Rousseau sagt. Niemand muss fliehen, niemand muss ertrinken. Die Insel ist die Erfahrung. Eine Erfahrung, die ihnen erlaubt, zurückzukehren, als Erleuchtete.“
Solche hohen Ziele jedoch kommen hier nicht esoterisch verkleistert daher, sondern hinuntergebrochen in die schnöde Alltäglichkeit und die prekären Verhältnisse der sozialistischen Ferienwelt. Immer wieder verwischt Lutz Seiler die Grenzen von sinnlicher Wirklichkeit, mystischen Deutungen, Halluzination und Traum in einem betörenden Erzählstrom. Monochromatisch ergänzen sich Naturbeschreibungen und Innenansichten, Gefühle, Gedichte, Geräusche und immer wieder Gerüche – ja, Gerüche, und oft nicht die besten. Getaucht in die Aufgeladenheit der alltäglichen Dinge und Verrichtungen ebenso wie in das marode DDR-Inventar entwickelt sich unter den Klausnern eine spezielle Ästhetik des Widerstands. Da gibt es den allgegenwärtigen Systemzugriff ebenso wie verwegene Gedankenflüge, es gibt freie Sexualität und, besonders gegen Ende, auch reichlich Alkohol. Kruso und Ed finden zueinander durch gemeinsame Verluste, über die sie nicht reden, und durch Gedichte, die sie sich heimlich vorlesen.
Es ist nur konsequent, dass diese besondere Ästhetik mit dem Erodieren der Unrechtsinstrumente des DDR-Systems im Jahr 1989 immer mehr Risse bekommt. Der Druck, den die Klausnergemeinschaft wie unter dem Deckel eines Kochtopfs schöpferisch kompensiert, entweicht zusehends. Während man aus dem Radio von der Öffnung des Eisernen Vorhangs in Ungarn hört und immer mehr Fluchtgeschichten kursieren, beginnen sich auch auf Hiddensee die Reihen zu lichten. Krusos Welt zerfließt schließlich in einer Art Delirium und der Erzähler inszeniert den Wendepunkt der Freundschaft zwischen Kruso und Ed zeitgleich mit dem Heraufziehen des 9. Novembers 1989, der Öffnung der Grenzen, in einem furiosen Finale unter dem Kanonendonner eines russischen Panzerschiffs.
Ebenso wie der Widerstand alles auf eine tiefere, geheimere Stufe gehoben hatte, fällt nun ohne ihn alles auseinander. Dadurch wird das Ideal der Klausnergemeinschaft aber keineswegs wertlos, wie ja auch in anderen Fällen der Geistesgeschichte der ideelle Gehalt einer besonderen Weltenstunde nach veränderten historischen Rahmenbedingungen aufgehoben blieb. „Poesie war Widerstand. Und ein Weg zur Erlösung. Eine ungeheure Möglichkeit.“ Das bleibt und es beweist sich nicht zuletzt in einem Roman wie „Kruso“ selbst. Lutz Seiler hat insofern auch ein literarisches Denkmal für vieles geschaffen, das einzigartig war in der Stilistik der DDR-Opposition und für Westler kaum nachvollziehbar ist.
Ein abschließendes Kapitel mit verändertem, fast dokumentarischem Tonfall ist den Toten gewidmet. Jahre nach den Ereignissen auf Hiddensee beginnt Ed jenen nachzuforschen, die es damals doch nicht ausgehalten hatten auf der Insel, aber dann elend ersoffen sind und irgendwo angespült in der Erde Dänemarks namenlose Gräber gefunden haben. Es ist ein bewegender Einsatz gegen das Vergessen, den der Autor auch ganz persönlich bei der Recherche für dieses Buch in dänischen Archiven und gerichtsmedizinischen Instituten geleistet hat. Lutz Seiler wollte keinen Roman über das Ende der DDR schreiben und hat sich politischer Wertungen weitgehend enthalten. Aber allein die nüchtern beschriebenen Wasserleichen in diesem Epilog wirken heftiger als jede explizite Anklage.