Archiv für den Monat: September 2020

Eine Menschheit, eine Erde

Unsere Potenzial, sozialfähige Wesen zu sein, hat grundlegend damit zu tun, dass wir Logos-fähige, vernunftbegabte Lebewesen sind, wie bereits Aristoteles feststellte. Die Vernunft als Sphäre des Denk- und Sagbaren (der Logos) bildet den Untergrund, auf dem wir uns als einige Menschheit erkennen und anerkennen.

Aristoteles bezeichnete den Logos als das Auszeichnende aller menschlicher Wesen. Gleichzeitig stellte es für ihn noch kein Problem dar, dass einige Menschen praktisch rechtlos als Sklaven lebten. Die Wirkmächtigkeit der damals tradierten sozialen Ordnung überlagerte das Potenzial allgemeiner menschlicher Gleichheit. Von Aristoteles ausgehend wirkte der Gedanke der gleichen Vernunftbegabung aller Menschen in der islamischen und christlichen Theologie und Philosophie emanzipatorisch weiter. Später arbeiteten in der europäischen Aufklärung Kant und andere die Vernunftfähigkeit noch deutlicher als Kennzeichen des Menschentums heraus und folgerten daraus grundlegende Rechte. Revolutionen und aufgeklärte Verfassungen entstanden. Und doch bestanden auch feudale Ungleichheiten weiter. In den neu gegründeten Vereinigten Staaten von Amerika lebte sogar die Sklavenhaltung ungehindert fort.

Gegen das fortschreitende Bewusstsein der Gleichheit aller Menschen waren aber am Ende auch die härtesten Einzelinteressen machtlos. Der Philosoph Kwame Anthony Appiah hat in seinen Untersuchungen (Eine Frage der Ehre) herausgearbeitet, wie in der Menschheit ein immer weitergehendes Streben nach gegenseitiger Anerkennung veranlagt ist, das sich im Laufe der Geschichte zunehmend entfaltet. Oftmals folgte diese Entfaltung der Struktur einer moralischen Revolution. Insbesondere in seinem Blick auf die Überwindung der amerikanischen Sklaverei zeigt Appiah, wie bei solchen Revolutionen ein immer gleiches Muster durchlaufen wird: Zunächst entsteht bei einigen Wenigen ein Bewusstsein für die Notwendigkeit eines anstehenden Entwicklungsschritts; das Unzureichende und Ungerechte der bestehenden Verhältnisse wird analysiert und kritisiert, ein neuer Zustand im Ideal vorweggenommen. Diesem in intellektuellen Eliten wachsenden Bewusstsein steht in der Regel ein regressives Potenzial gegenüber. Dieses wehrt sich mit Verleugnung und Abschottung gegen die Kenntnisnahme des längst Offensichtlichen und erst recht gegen Maßnahmen zu seiner Überwindung. Erreicht das Problembewusstsein eine kritische Masse, erkennt man die Missstände an, führt aber weiterhin Argumente ins Feld, warum diese nicht oder nicht ohne die Ordnung gefährdende Einschnitte verändert werden können. Dann folgt eine Phase der evolutionären oder revolutionären gesellschaftlichen Durchsetzung, bis schließlich das neu Erreichte auch rechtlich verankert und verbindlich für alle wird. Diese Muster sind allerdings nur rückblickend rekonstruierbar und keineswegs darf hier ein ethischer Automatismus vorausgesetzt werden, demzufolge sich das ethisch Fortschrittliche „schon durchsetzen“ werde. Die Struktur moralischer Revolutionen ist dennoch ein starkes Argument dafür, sich auf der aktiven Seite solcher geschichtlicher Veränderungen einzusetzen und zu ihrem Gelingen beizutragen. Sie berechtigt zu der Hoffnung, dass die Idee der Einen Menschheit in jedem Individuum veranlagt ist und in ihrer Macht und Schönheit das Potenzial hat, Menschen immer neu für diese Idee zu begeistern und sie mehr und mehr als Realität zu manifestieren.

Das gilt gerade heute, wo sich die Frage nach globaler Gerechtigkeit angesichts von ökologischen Katastrophenszenarien und autoritär-politischen Rückschlägen so eindringlich stellt wie lange nicht. Die Einheit der Menschheit, so greifbar diese in den zurückliegenden Jahrzehnten durch die Globalisierung von Wirtschaft, Verkehr und Kommunikation auch in Erscheinung ist, erscheint heute immer mehr in ihrem Überleben auf dem gemeinsamen Planeten Erde gefährdet. Wir trinken alle dasselbe Wasser und atmen alle die gleiche Luft. Und wir sind alle vom gleichen Geist. Mehr denn je gilt es, aus dem Bewusstsein dieser Einheit heraus heute das gemeinsame Schicksal von Erde und Menschheit in die Hand zu nehmen – auch für die kommenden Generationen, die heute ebenfalls in das Ideal der Einen Menschheit eingeschlossen sind.

Viele Keime eines Engagements um die ökologischen Grundlagen unserer Zukunft – um unsere Erde! – sind in Form neuer Projekte schon da. Und auch das Kümmern um die Lebensbedingungen der Einen Menschheit wird immer vernehmbarer. Denken wir nur an so manche weltumspannenden Projekte solidarischer Aufbauunterstützung in Schwellenländern oder an die Ansätze zur Flüchtlingshilfe. Denken wir auch beispielsweise an das wachsende Netzwerk einer Gemeinwohlökonomie, an nachhaltige biologische Landwirtschaft und das wachsende Bewusstsein für den Klimaschutz. Ganzheitliche Schulbildung, pionierhafte Methoden im biologischen Landbau, die Gründung von Unternehmen mit einem neuen Wirtschaftsdenken und einem ethischen Umgang mit Geld sind hier ebenfalls zu nennen. Die empathische Zuwendung zu den Bedürfnissen und Nöten unserer Mitmenschen und der Erde gibt hier den Ausschlag.

(Auszug aus einer größeren, in Arbeit befindlichen Abhandlung)