„Woran erkennen wir wohl“, fragte Rabbi Bunam seine Schüler, „in diesem Zeitalter ohne Propheten, wann uns eine Sünde vergeben ist?“ Die Schüler gaben mancherlei Antwort, aber keine gefiel dem Rabbi. „Wir erkennen es daran”, sagte er, „dass wir die Sünde nicht mehr tun.“ (Nach Martin Buber)
Alles soziale Leben bezieht seine Kontinuität aus der Verbindlichkeit vereinbarter Regeln. Dass der Verstoß gegen Regeln auch sanktioniert wird, gibt unserem stets fragilen Leben den Anschein von Sicherheit. Nicht nur für den direkt Betroffenen eines Raubüberfalls, auch für das gesellschaftliche Umfeld bildet es eine – wenn auch schwache – Genugtuung, wenn immerhin der Täter gefasst und seiner Strafe zugeführt wird.
Weniger gravierend als Gewaltverbrechen, aber auf andere Weise belastend sind zwischenmenschliche Vertrauensbrüche und Verletzungen, die fern einer juristischen Dimension geschehen. Der Arbeitskollege, der mich seiner eigenen Karriere wegen schädigt, die Partnerin, die mich mit dem besten Freund betrügt, der Ehemann, der die Familie verlässt – wir leiden, wenn andere an uns schuldig werden. Gleichzeitig begehen wir auch selbst Fehler, tun anderen Unrecht und werden vom schlechten Gewissen geplagt. Oft treibt einem noch Jahre nach einem Fehltritt die Erinnerung die Schamesröte ins Gesicht.
Sich aus der Opferrolle zu befreien ist leichter gesagt als getan – von außen gesehen fällt der Vorschlag nicht schwer, dass jemand, dem Unrecht geschah, doch besser vergeben sollte als sich endlos über etwas zu grämen, was nun einmal nicht mehr zu ändern ist. Gerade in spirituellen Kreisen gibt es manchmal recht flott die Erwartung, für die Wiederherstellung des (Seelen-)Friedens müsse eben manchmal auch der Geschädigte den ersten Schritt tun und vergessen. Manche schwülstige Verzeihens-Mystik spricht dabei den realen Leiden Hohn und verwischt gern den kategorialen Unterschied von Täter und Opfer. Wem wäre nicht schon einmal der so verlockend einleuchtende Spruch über die Lippen gekommen, „Zu einem Konflikt gehören immer zwei“?
Vergeben als Selbstschutz
Dennoch kann zwar nicht das verdrängende Vergessen, wohl aber das bewusste Vergeben ein wirksames Mittel sein, auch den eigenen Seelenfrieden nach erlittenem Unrecht wiederzuerlangen und sich selbst vor zerstörerischem Hass zu schützen. Nicht vergessen werden darf dabei, dass Menschen, die vergeben, sich manchmal schier Übermenschliches abverlangen: „Als ich aus der Zelle durch die Tür in Richtung Freiheit ging, wusste ich, dass ich meine Verbitterung und meinen Hass zurücklassen musste, oder ich würde mein Leben lang gefangen bleiben“, erinnerte sich Nelson Mandela. Die Philosophin Svenja Flaßpöhler sprach für ihr Buch „Verzeihen. Vom Umgang mit Schuld“ mit der Mutter eines Schülers, der Opfer eines Amokläufers wurde. Diese Mutter erzählte ihr, dass sie nach einer langen Zeit von Verzweiflung und Hass auf den Todesschützen die Perspektive umkehren konnte und schließlich Mitleid mit einem Täter zu empfinden begann, der eine solche Schuld auf sich geladen hatte.
Schuld und Sühne sind Ur-Dramen und das Bedürfnis nach Ausgleich ist so alt wie die Menschheit. Seit Ur-Zeiten existieren daher bestimmte Rituale und religiöse Formen, um die Last der Schuld in unseren Beziehungen einer Hygiene des Zwischenmenschlichen zu unterziehen. Im Judentum ist das höchste Fest im Jahr Jom Kippur, das Versöhnungsfest. „Und vergib uns unsere Schuld, wie auch wir vergeben unseren Schuldigern“, lehrt Jesus seine Jünger zu beten. Dass Vergebung dabei kein einfacher Ablasshandel ist (sei es nun wie in der Karikatur des pekuniären Freikaufs oder im hastig dahergesprochenen Gebet), sondern mit echter innerer Wandlung zu tun hat, betont der Koran: „Allahs Vergebung ist nur für jene, die unwissentlich Böses tun und bald darauf Reuhe zeigen“. Wer um Vergebung bittet, zeigt Einsicht, spürt Reue und will Wiedergutmachung leisten – das sind ebenso archaische wie zeitlos wirksame Gefühle und Werte.
Vergeben und Versöhnen
Vergeben kann auch einseitig geschehen: Ich kann jemandem vergeben, weil ich die Kraft dazu finde oder mich dazu durchringe, egal wie sich der andere verhält. Zum Versöhnen gehören zwei. Es ist ein Prozess, der zunächst voraussetzt, dass derjenige, der Unrecht begangen hat, seine Schuld eingesteht (das Wort Versöhnen kommt von Sühne). Die Formulierung „Ich bitte um Entschuldigung“ enthält, anders als das schon erfolgsgewisse „Ich entschuldige mich“ (genau genommen kann ich mich gar nicht selbst entschuldigen) die Frage an mich, ob ich das Eingeständnis der konkreten Fehlbarkeit des Anderen annehmen kann. So gefragt, wirkt es zutiefst erlösend, wenn ich empfinden darf, dass der Andere jetzt versteht, dass ich unter seinem Verhalten gelitten habe. Als zweiter Schritt des Versöhnens kann es mich (und auch den Anderen) erleichtern, wenn ich verstehe, warum der Andere so gehandelt hat, aus welchen Zwängen, Nöten oder eben Unvollkommenheiten heraus. Derart versöhnt höre ich auf, den Anderen allein mit seinen an mir „ausgelassenen“ Schattenseiten zu identifizieren und kann wieder beginnen, zwischen dem Menschen und seinen Taten zu unterscheiden.
Wie das gelingt? Dafür gibt es keine Technik, keinen Ratgeber und keine Garantie. Versöhnungsversuche sind, wie auch das öffentliche Leben immer wieder zeigt, ein fragiler Prozess. Ihm wohnt „immer auch etwas Unverfügbares inne“, betont Svenja Flaßpöhler. „Man kann es sich nicht vornehmen, man kann es auch nicht lernen wie eine Sportübung, es ist vielleicht eher mit der Kunst vergleichbar.“
Wenn es aber gelingt, dann gilt das, was der Volksmund mit der Formel „vergeben und vergessen“ besiegelt: Wenn sich Sühne oder Reue auf der einen und liebendes Verständnis auf der anderen Seite begegnen, hört ein erlittenes oder getanes Unrecht auf, in den Tiefen der Erinnerung zu rumoren. Versöhnt sein heißt dann, sich wieder neu in die Augen sehen zu können.
Ein Text aus der Zeitschrift Info3 Januar 2017.