Unsere Potenzial, sozialfähige Wesen zu sein, hat grundlegend damit zu tun, dass wir Logos-fähige, vernunftbegabte Lebewesen sind, wie bereits Aristoteles feststellte. Die Vernunft als Sphäre des Denk- und Sagbaren (der Logos) bildet den Untergrund, auf dem wir uns als einige Menschheit erkennen und anerkennen.
Aristoteles bezeichnete den Logos als das Auszeichnende aller menschlicher Wesen. Gleichzeitig stellte es für ihn noch kein Problem dar, dass einige Menschen praktisch rechtlos als Sklaven lebten. Die Wirkmächtigkeit der damals tradierten sozialen Ordnung überlagerte das Potenzial allgemeiner menschlicher Gleichheit. Von Aristoteles ausgehend wirkte der Gedanke der gleichen Vernunftbegabung aller Menschen in der islamischen und christlichen Theologie und Philosophie emanzipatorisch weiter. Später arbeiteten in der europäischen Aufklärung Kant und andere die Vernunftfähigkeit noch deutlicher als Kennzeichen des Menschentums heraus und folgerten daraus grundlegende Rechte. Revolutionen und aufgeklärte Verfassungen entstanden. Und doch bestanden auch feudale Ungleichheiten weiter. In den neu gegründeten Vereinigten Staaten von Amerika lebte sogar die Sklavenhaltung ungehindert fort.
Gegen das fortschreitende Bewusstsein der Gleichheit aller Menschen waren aber am Ende auch die härtesten Einzelinteressen machtlos. Der Philosoph Kwame Anthony Appiah hat in seinen Untersuchungen (Eine Frage der Ehre) herausgearbeitet, wie in der Menschheit ein immer weitergehendes Streben nach gegenseitiger Anerkennung veranlagt ist, das sich im Laufe der Geschichte zunehmend entfaltet. Oftmals folgte diese Entfaltung der Struktur einer moralischen Revolution. Insbesondere in seinem Blick auf die Überwindung der amerikanischen Sklaverei zeigt Appiah, wie bei solchen Revolutionen ein immer gleiches Muster durchlaufen wird: Zunächst entsteht bei einigen Wenigen ein Bewusstsein für die Notwendigkeit eines anstehenden Entwicklungsschritts; das Unzureichende und Ungerechte der bestehenden Verhältnisse wird analysiert und kritisiert, ein neuer Zustand im Ideal vorweggenommen. Diesem in intellektuellen Eliten wachsenden Bewusstsein steht in der Regel ein regressives Potenzial gegenüber. Dieses wehrt sich mit Verleugnung und Abschottung gegen die Kenntnisnahme des längst Offensichtlichen und erst recht gegen Maßnahmen zu seiner Überwindung. Erreicht das Problembewusstsein eine kritische Masse, erkennt man die Missstände an, führt aber weiterhin Argumente ins Feld, warum diese nicht oder nicht ohne die Ordnung gefährdende Einschnitte verändert werden können. Dann folgt eine Phase der evolutionären oder revolutionären gesellschaftlichen Durchsetzung, bis schließlich das neu Erreichte auch rechtlich verankert und verbindlich für alle wird. Diese Muster sind allerdings nur rückblickend rekonstruierbar und keineswegs darf hier ein ethischer Automatismus vorausgesetzt werden, demzufolge sich das ethisch Fortschrittliche „schon durchsetzen“ werde. Die Struktur moralischer Revolutionen ist dennoch ein starkes Argument dafür, sich auf der aktiven Seite solcher geschichtlicher Veränderungen einzusetzen und zu ihrem Gelingen beizutragen. Sie berechtigt zu der Hoffnung, dass die Idee der Einen Menschheit in jedem Individuum veranlagt ist und in ihrer Macht und Schönheit das Potenzial hat, Menschen immer neu für diese Idee zu begeistern und sie mehr und mehr als Realität zu manifestieren.
Das gilt gerade heute, wo sich die Frage nach globaler Gerechtigkeit angesichts von ökologischen Katastrophenszenarien und autoritär-politischen Rückschlägen so eindringlich stellt wie lange nicht. Die Einheit der Menschheit, so greifbar diese in den zurückliegenden Jahrzehnten durch die Globalisierung von Wirtschaft, Verkehr und Kommunikation auch in Erscheinung ist, erscheint heute immer mehr in ihrem Überleben auf dem gemeinsamen Planeten Erde gefährdet. Wir trinken alle dasselbe Wasser und atmen alle die gleiche Luft. Und wir sind alle vom gleichen Geist. Mehr denn je gilt es, aus dem Bewusstsein dieser Einheit heraus heute das gemeinsame Schicksal von Erde und Menschheit in die Hand zu nehmen – auch für die kommenden Generationen, die heute ebenfalls in das Ideal der Einen Menschheit eingeschlossen sind.
Viele Keime eines Engagements um die ökologischen Grundlagen unserer Zukunft – um unsere Erde! – sind in Form neuer Projekte schon da. Und auch das Kümmern um die Lebensbedingungen der Einen Menschheit wird immer vernehmbarer. Denken wir nur an so manche weltumspannenden Projekte solidarischer Aufbauunterstützung in Schwellenländern oder an die Ansätze zur Flüchtlingshilfe. Denken wir auch beispielsweise an das wachsende Netzwerk einer Gemeinwohlökonomie, an nachhaltige biologische Landwirtschaft und das wachsende Bewusstsein für den Klimaschutz. Ganzheitliche Schulbildung, pionierhafte Methoden im biologischen Landbau, die Gründung von Unternehmen mit einem neuen Wirtschaftsdenken und einem ethischen Umgang mit Geld sind hier ebenfalls zu nennen. Die empathische Zuwendung zu den Bedürfnissen und Nöten unserer Mitmenschen und der Erde gibt hier den Ausschlag.
(Auszug aus einer größeren, in Arbeit befindlichen Abhandlung)
Im Dezember 2014 traf ich in Köln den Autor Jelle van der Meulen zu einem Gespräch über sein neues Buchprojekt zum Thema „Freundschaft“ in unserem Verlag. Jelle stammt aus den Niederlanden und erzählte mir damals mit Sorge von den gerade aktuellen Erfolgen des Rechtspopulisten Geert Wilders in seiner Heimat. Ausgerechnet bei unseren liberalen Nachbarn vollzog sich eine autoritäre Gegenbewegung zu der jahrelang gepflegten Offenheit und Toleranz. Ich werde nicht vergessen, was Jelle dann weiter sagte: „Jens, das kommt auf Euch auch noch zu“. Wie bitte?! Ich widersprach damals fast empört und mit Überzeugung: Sicher, auch in den skandinavischen Ländern, in Frankreich und in Ost-Mitteleuropa war bereits so etwas wie die Veränderung der Großwetterlage zu bemerken in Richtung von Neo-Nationalismus und Fremdenfeindlichkeit. Aber wir Deutschen, so sagte ich Jelle, hätten aus unserer schrecklichen Vergangenheit gelernt, die politischen und gesellschaftlichen Strukturen seien immun und Rechtsextremismus werde bei uns immer ein Randphänomen bleiben. Damals war die AfD noch eine (nicht einmal uninteressante) Gruppierung von Wirtschaftsexperten, die gegen die Euro-Rettungspolitik waren.
Heute ist diese Partei ein Sammelbecken für den Versuch, die gesellschaftliche Entwicklung in Deutschland zurückzudrehen. Vom „links-grün versifften Mainstream“ redet der AfD-Sprecher Jörg Meuthen und meint damit alles, was an Gleichstellungsbemühungen, Anti-Diskriminierungsansätzen, Gender-Sensibilität und vielem mehr im Nachklang der 68er Bewegung bei uns selbstverständlich geworden ist. Vom „Schuldkult“ der Deutschen spricht abfällig die AfD-Fraktionschefin Alice Weidel und wendet sich damit gegen die Tatsache, dass wir in der Nachkriegsgeschichte schmerzhaft gelernt haben, uns den in deutschem Namen begangenen Verbrechen in der NS-Zeit zu stellen. Und Alexander Gauland, ebenfalls Fraktionssprecher, hat mit seinem Wunsch, eine türkischstämmige Regierungspolitikerin „in Anatolien zu entsorgen“ ein Beispiel für die notorische Islamfeindlichkeit seiner Partei gegeben. Mit diesen drei Beispielen ist die wesentliche Programmatik der AfD bereits umrissen.
Wenn eine solche Partei mit zwölf Prozent in den Bundestag einzieht, dann ist nicht zu leugnen, dass sie von einem beträchtlichen Bevölkerungsanteil als berechtigte politische Kraft angesehen wird. Sie wäre weiter ein Randphänomen geblieben, wenn es nicht im Spätsommer 2015 einen schlagartigen Zuzug von Flüchtlingen überwiegend aus arabisch-islamischen Gebieten gegeben hätte. Für die hinter diesen Bildern einer Völkerwanderung stehenden Ursachen politisch-kriegerischer Katastrophen zum einen und europapolitischer Uneinigkeit zum anderen interessierte man sich kaum. Für viele war es stattdessen ein willkommenes Angebot, dass eine neue politische Kraft versprach, die gewohnte Ordnung wiederherzustellen und der entstandenen Unzufriedenheit mit dem „System“ eine Stimme zu geben.
Vorwärts in die Vergangenheit?
Inzwischen hat das Vordringen der AfD und der neuen politischen Rechten in unsere Gesellschaft den Charakter eines Kulturkampfes angenommen. Es sind Schleusen geöffnet worden für die überwunden geglaubte Ideologie des Völkischen und mit den eingedrungenen trüben Wassern werden wir noch lange zu tun haben. Kürzlich irritierte mich ein Fernsehbericht, in dem ein durchaus sympathisch wirkender, junger AfD-Abgeordneter in aller Naivität in die Kamera sagte, nach seiner Überzeugung hätten dunkelhäutige Spieler in einer deutschen Fußball-Nationalmannschaft nichts zu suchen. Es sind auch keineswegs nur die schlichteren Gemüter, die dem neuen Trend folgen. Der rechtsextreme AfD-Abgeordenete und Richter aus Dresden Jens Maier beklagt in NS-Jargon das Entstehen von „Mischvölkern“ und hat sogar dem Massenmörder Breivijk als „Verzweiflungstäter“ Verständnis entgegengebracht. Hinter der oft dumpfbackig auftretenden AfD stehen kluge Rechtsintellektuelle, die das Erstarken der Völkischen in Deutschland als Gelegenheit zum Systemwechsel ausweiten wollen. Leuten wie dem völkischen Verleger Götz Kubitschek oder den Jung-Stars der sogenannten „Identitären Bewegung“ geht es ja nicht darum, als Teil einer pluralistischen Gesellschaft akzeptiert zu werden, sondern darum, den Willen zur Beseitigung des Pluralismus salonfähig zu machen.
Auf der zurückliegenden Buchmesse 2017 in Frankfurt habe ich aus der Nähe erlebt, wie es diesem neurechten Spektrum geschickt gelingt, den öffentlichen Raum zu besetzen. Ein anderes Beispiel unter vielen: In Leipzig schwärmt der Jura-Professor Thomas Rauscher öffentlich von einem „weißen Europa“, spricht im Blick auf homosexuelle Paare von „ehezersetzenden Verirrungen“ und inszeniert sich zum guten Schluss, wenn Studierende seine Vorlesungen boykottieren, als Opfer „totalitärer“ Maßnahmen. Hier ist der Versuch eines massiven gesellschaftlichen Roll-Backs am Werk.
Den „Abgehängten“ Recht geben?
Deshalb ist es so gefährlich, wenn derzeit so getan wird, als könne man dem Einflussverlust nicht nur der etablierten Parteien und Medien, sondern auch weiter Teile der Zivilgesellschaft dadurch begegnen, dass man in die Kritik an „den Eliten“ einstimmt oder signalisiert, künftig besser auf die „besorgten Bürger“ eingehen zu wollen – gefährlich jedenfalls wenn das bedeuten würde, die zentralen Forderungen dieser schleichenden Revolution von Rechts zu übernehmen, sei es in der „Systemkritik“ an der parlamentarischen Demokratie oder in der Asylpolitik. Fatalerweise glauben manche Politiker der konservativen Parteien, aber auch der SPD bis hin zur Linken durch derartiges „Verständnis“ einen drohenden Machtverlust aufhalten zu können.
Die wohlklingende Absicht, zukünftig mehr „auf die Abgehängten zu hören“ kann aber doch nicht bedeuten, beispielsweise die Abschottung vor dem Fremden oder die Polemik gegen den Islam als berechtigte Positionen aufzuwerten. Es kann auch nicht bedeuten, grundlegende Schritte in Richtung Geschlechtergerechtigkeit wieder rückgängig zu machen, nur weil manche mit dem Etikett „Genderwahn“ Dinge verteufeln, die sie nicht verstehen oder nicht verstehen wollen. Es kann, in einem Wort, nicht bedeuten, bereits vollzogene und auch gesellschaftlich verbindlich gewordene Bewusstseinsfortschritte in Richtung von mehr Gerechtigkeit, Vielfalt und Toleranz wieder aufzuheben, nur weil manche nun die Stunde gekommen sehen, ihr ohnehin schon bestehendes Unbehagen an der Moderne lauthals zu artikulieren. In dieser Auseinandersetzung wäre es ein unrealistisches Ziel darauf zu warten, dass sich am Ende alle vertreten und verstanden fühlen, auch wenn sie überholten Wertvorstellungen anhängen.
Die Offene Gesellschaft verteidigen
In der Gegenwart geht es vielmehr darum, unsere Offene Gesellschaft, die sich auf der Basis von Rechtsstaatlichkeit, Demokratie und Menschenrechten in den vergangenen 30 Jahren zunehmend zivilgesellschaftlich ausgefächert hat, zu würdigen und selbstbewusst zu verteidigen. Denn es ist keine Selbstverständlichkeit, dass dieses System eine Freiheit ermöglicht, wie es sie in der deutschen Geschichte nie zuvor gegeben hat. Im Mittelpunkt unserer Verfassungsordnung mit ihrem Zusammenspiel von Gesetzgebung, Regierung, unabhängigen Gerichten und Medien und einer Vielzahl gesellschaftlicher Akteure steht das Ziel der Entfaltungsmöglichkeit des Einzelnen in Gemeinschaft. Der Mensch als unverfügbare Persönlichkeit – seine Würde – ist der geistige und soziale Leitstern unserer Gesellschaft. Kein Gott, kein religiöser, auch kein nationaler und kein einzelner moralischer Wert ist der letzte Anker des Sozialen, sondern die „Sakralität der Person“ (Hans Joas). Im Vergangenen Jahr haben wir unter anderem mit der Herbstakademie an der Alanus Hochschule versucht, den tiefen Humanismus, der den Grund der Offenen Gesellschaft bildet, herauszuarbeiten.
Gemeinsinn ist nötig
Das Ausleben menschlicher Einheit in individueller Vielfalt braucht aber auch einen Bewusstseins-Schutz. Es muss ein ausreichendes Verständnis in einer ausreichenden Anzahl von Menschen leben, die, mit Hannah Arendt gesprochen, insofern „repräsentativ“ denken und handeln können, als sie mehr als nur ihre eigenen Partial-Interessen im Blick haben und so etwas wie „Gemeinsinn“ aufbringen können. Geht dieser Gemeinsinn verloren, gibt es keine äußere Autorität und keine Instanz, welche das Fundament einer freien und offenen Gesellschaft garantieren könnten.
Dies ist umso wichtiger zu betonen, als heute nicht selten auch in grün-linken und spirituellen Kreisen ein Überdruss an der Demokratie zu verzeichnen ist. Immer häufiger bekomme ich beispielsweise auch in meiner Arbeit als Redakteur zu hören, wir hätten ja gar keine Demokratie in Deutschland, nur durch die Einführung von Volksabstimmungen sei „das Volk“ wieder in seine Rechte zu setzen. So sinnvoll eine Erweiterung der demokratischen Regeln auch sein mag, so schädlich ist der oft fundamentalistische Unterton solcher Bemühungen. Und nicht selten bildet hier, genau wie bei den neuen Rechten, die Figur der deutschen Bundeskanzlerin eine Projektionsfläche beißender Kritik, ähnlich übrigens wie die demokratische Präsidentschaftskandidatin Hilary Clinton im Vorfeld der US-Wahlen gerade in links-alternativen Kreisen in geradezu hysterischer Weise zum Hassobjekt und zur Bedrohung des Weltfriedens hochstilisiert wurde. Das Ergebnis ist bekannt.
Echte Aufgaben anpacken
Deshalb ist meiner Überzeugung nach heute jeder Beitrag wichtig, der sich gegen den Versuch wendet, die mühsam errungene Offene Gesellschaft in zynischer Weise als obsolet zu schwächen. Füllen wir sie besser mit neuem Leben! Was mir dabei Hoffnung macht: Trotz der geschilderten Gefahren bilden, nüchtern betrachtet, die politischen Kräfte der gemäßigten Mitte immer noch eine klare Mehrheit. Trotz des durch die FDP herbeigeführten Scheiterns der Jamaika-Sondierungen hat sich gezeigt: Ein bei weitem überwiegender Teil der politischen Repräsentanten und auch der gesellschaftlich aktiven Menschen in Deutschland haben heute mehr Gemeinsamkeiten als Unterschiede. Diese immer noch vorhandene Basis gilt es zu nutzen und jenseits der fruchtlosen Debatte etwa um „Obergrenzen“ oder die Gefahr einer Islamisierung die wirklichen Probleme unserer Welt zum öffentlichen Thema zu machen: Zentrale Gegenwartsforderungen wie eine Stabilisierung des Nahen Ostens, der nachhaltige wirtschaftliche Aufbau Afrikas oder die Bekämpfung des Klimawandels durch einen radikalen Umbau unserer industriellen Gesellschaft lassen sich nicht mehr national und schon gar nicht nationalistisch lösen. Nur der bereits eingeschlagene Weg einer europäisch eingebundenen Identität Deutschlands erscheint aussichtsreich, einen fruchtbaren Beitrag zu den gewaltigen Herausforderungen unserer Zeit zu leisten. Die Krise unserer Tage ist nur durch einen entschieden Schritt nach vorn zu bewältigen.
Eine gekürzte Fassung dieses Textes findet sich in der Zeitschrift evolve Ausgabe 17/2018 (erscheint am 18. Januar). Ein Probeabo mit zwei Ausgaben kann hier zum Preis von 15 Euro bestellt werden.
Zur Frankfurter Buchmesse 2017 erscheint mein neues Buch:
Die Idee zu diesem Buch entstammt konkreten Debatten im Rahmen meiner Seminare, Vorträge und auch Diskussionen in den sozialen Netzwerken, wo es um grundlegende philosophische und weltanschauliche Fragen ging. Dabei bemerkte ich, dass sich bestimmte Argumente in Art wiederkehrender denkerischer Blockaden bündeln ließen. Solche oft unter der Oberfläche liegenden Vor-Annahmen zu hinterfragen und aufzulösen war meine ursprüngliche Intention. Irgendwann im Laufe des Jahres 2016 und spätestens mit dem Wahlsieg von Trump bemerkte ich dann plötzlich, dass meine primäre Auseinandersetzung mit Fragen des Weltbildes auch eine zentrale Rolle für unsere Gegenwartssituation spielt, die ich abkürzend die „postfaktische“ Zeit nenne und die von einer aushöhlenden Relativierung grundlegender Begriffe wie Tatsachen oder Wahrheit oder auch die grundlegende Infragestellung menschlicher Urteilsfähigkeit gekennzeichnet ist. Die postmoderne Sicht des Menschen und die postfaktische Bedrohung unseres sozialen Zusammenhalts in Gestalt von Populismus und Fake-News haben eine gemeinsame Wurzel, die ich in diesem Buch aufzeigen und durch positive Impulse ersetzen möchte.
„Woran erkennen wir wohl“, fragte Rabbi Bunam seine Schüler, „in diesem Zeitalter ohne Propheten, wann uns eine Sünde vergeben ist?“ Die Schüler gaben mancherlei Antwort, aber keine gefiel dem Rabbi. „Wir erkennen es daran”, sagte er, „dass wir die Sünde nicht mehr tun.“ (Nach Martin Buber)
Alles soziale Leben bezieht seine Kontinuität aus der Verbindlichkeit vereinbarter Regeln. Dass der Verstoß gegen Regeln auch sanktioniert wird, gibt unserem stets fragilen Leben den Anschein von Sicherheit. Nicht nur für den direkt Betroffenen eines Raubüberfalls, auch für das gesellschaftliche Umfeld bildet es eine – wenn auch schwache – Genugtuung, wenn immerhin der Täter gefasst und seiner Strafe zugeführt wird.
Weniger gravierend als Gewaltverbrechen, aber auf andere Weise belastend sind zwischenmenschliche Vertrauensbrüche und Verletzungen, die fern einer juristischen Dimension geschehen. Der Arbeitskollege, der mich seiner eigenen Karriere wegen schädigt, die Partnerin, die mich mit dem besten Freund betrügt, der Ehemann, der die Familie verlässt – wir leiden, wenn andere an uns schuldig werden. Gleichzeitig begehen wir auch selbst Fehler, tun anderen Unrecht und werden vom schlechten Gewissen geplagt. Oft treibt einem noch Jahre nach einem Fehltritt die Erinnerung die Schamesröte ins Gesicht.
Sich aus der Opferrolle zu befreien ist leichter gesagt als getan – von außen gesehen fällt der Vorschlag nicht schwer, dass jemand, dem Unrecht geschah, doch besser vergeben sollte als sich endlos über etwas zu grämen, was nun einmal nicht mehr zu ändern ist. Gerade in spirituellen Kreisen gibt es manchmal recht flott die Erwartung, für die Wiederherstellung des (Seelen-)Friedens müsse eben manchmal auch der Geschädigte den ersten Schritt tun und vergessen. Manche schwülstige Verzeihens-Mystik spricht dabei den realen Leiden Hohn und verwischt gern den kategorialen Unterschied von Täter und Opfer. Wem wäre nicht schon einmal der so verlockend einleuchtende Spruch über die Lippen gekommen, „Zu einem Konflikt gehören immer zwei“?
Vergeben als Selbstschutz
Dennoch kann zwar nicht das verdrängende Vergessen, wohl aber das bewusste Vergeben ein wirksames Mittel sein, auch den eigenen Seelenfrieden nach erlittenem Unrecht wiederzuerlangen und sich selbst vor zerstörerischem Hass zu schützen. Nicht vergessen werden darf dabei, dass Menschen, die vergeben, sich manchmal schier Übermenschliches abverlangen: „Als ich aus der Zelle durch die Tür in Richtung Freiheit ging, wusste ich, dass ich meine Verbitterung und meinen Hass zurücklassen musste, oder ich würde mein Leben lang gefangen bleiben“, erinnerte sich Nelson Mandela. Die Philosophin Svenja Flaßpöhler sprach für ihr Buch „Verzeihen. Vom Umgang mit Schuld“ mit der Mutter eines Schülers, der Opfer eines Amokläufers wurde. Diese Mutter erzählte ihr, dass sie nach einer langen Zeit von Verzweiflung und Hass auf den Todesschützen die Perspektive umkehren konnte und schließlich Mitleid mit einem Täter zu empfinden begann, der eine solche Schuld auf sich geladen hatte.
Schuld und Sühne sind Ur-Dramen und das Bedürfnis nach Ausgleich ist so alt wie die Menschheit. Seit Ur-Zeiten existieren daher bestimmte Rituale und religiöse Formen, um die Last der Schuld in unseren Beziehungen einer Hygiene des Zwischenmenschlichen zu unterziehen. Im Judentum ist das höchste Fest im Jahr Jom Kippur, das Versöhnungsfest. „Und vergib uns unsere Schuld, wie auch wir vergeben unseren Schuldigern“, lehrt Jesus seine Jünger zu beten. Dass Vergebung dabei kein einfacher Ablasshandel ist (sei es nun wie in der Karikatur des pekuniären Freikaufs oder im hastig dahergesprochenen Gebet), sondern mit echter innerer Wandlung zu tun hat, betont der Koran: „Allahs Vergebung ist nur für jene, die unwissentlich Böses tun und bald darauf Reuhe zeigen“. Wer um Vergebung bittet, zeigt Einsicht, spürt Reue und will Wiedergutmachung leisten – das sind ebenso archaische wie zeitlos wirksame Gefühle und Werte.
Vergeben und Versöhnen
Vergeben kann auch einseitig geschehen: Ich kann jemandem vergeben, weil ich die Kraft dazu finde oder mich dazu durchringe, egal wie sich der andere verhält. Zum Versöhnen gehören zwei. Es ist ein Prozess, der zunächst voraussetzt, dass derjenige, der Unrecht begangen hat, seine Schuld eingesteht (das Wort Versöhnen kommt von Sühne). Die Formulierung „Ich bitte um Entschuldigung“ enthält, anders als das schon erfolgsgewisse „Ich entschuldige mich“ (genau genommen kann ich mich gar nicht selbst entschuldigen) die Frage an mich, ob ich das Eingeständnis der konkreten Fehlbarkeit des Anderen annehmen kann. So gefragt, wirkt es zutiefst erlösend, wenn ich empfinden darf, dass der Andere jetzt versteht, dass ich unter seinem Verhalten gelitten habe. Als zweiter Schritt des Versöhnens kann es mich (und auch den Anderen) erleichtern, wenn ich verstehe, warum der Andere so gehandelt hat, aus welchen Zwängen, Nöten oder eben Unvollkommenheiten heraus. Derart versöhnt höre ich auf, den Anderen allein mit seinen an mir „ausgelassenen“ Schattenseiten zu identifizieren und kann wieder beginnen, zwischen dem Menschen und seinen Taten zu unterscheiden.
Wie das gelingt? Dafür gibt es keine Technik, keinen Ratgeber und keine Garantie. Versöhnungsversuche sind, wie auch das öffentliche Leben immer wieder zeigt, ein fragiler Prozess. Ihm wohnt „immer auch etwas Unverfügbares inne“, betont Svenja Flaßpöhler. „Man kann es sich nicht vornehmen, man kann es auch nicht lernen wie eine Sportübung, es ist vielleicht eher mit der Kunst vergleichbar.“
Wenn es aber gelingt, dann gilt das, was der Volksmund mit der Formel „vergeben und vergessen“ besiegelt: Wenn sich Sühne oder Reue auf der einen und liebendes Verständnis auf der anderen Seite begegnen, hört ein erlittenes oder getanes Unrecht auf, in den Tiefen der Erinnerung zu rumoren. Versöhnt sein heißt dann, sich wieder neu in die Augen sehen zu können.
Der Volksentscheid zum Brexit, das Referendum gegen die EU-Sparauflagen in Griechenland, die Grundeinkommens-Abstimmung in der Schweiz, die Volksabstimmung in den Niederlanden gegen die Aufnahme der Ukraine, und bald der Volksentscheid gegen die Aufnahme von Flüchtlingen in Ungarn – Volksabstimmungen sorgen in letzter Zeit für erregte Debatten.
Auch in Deutschland wird der Ruf nach Volksentscheiden gegenwärtig lauter, nicht zuletzt auch im Umkreis von Pegida und der AfD, wo man sich beispielsweise Mehrheiten gegen das bestehende Asylrecht erhofft. Ist es nur diese Instrumentalisierung von Volksentscheiden durch Populisten, die mich skeptisch stimmt? Schließlich lassen sich Rechtsextreme ja auch bei Parlamentswahlen nicht verhindern. Warum also meine Fragen?
Die „Warnung vor dem Volk“, die schon so mancher Kolumnist entweder ironisch kritisierte oder auch bewusst unterstützte, kann es nicht sein – denn schließlich ist das Volk der Souverän, von dem laut Verfassung alle Gewalt ausgeht. Seit der Aufklärung und der französischen Revolution wurde darum gerungen, der Macht dieses Souveräns mit den passenden Strukturen Ausdruck zu verleihen. Es kann keinesfalls darum gehen, durch den Einfluss einer politischen Elite den Willen oder den Einfluss dieses Souveräns in Abrede zu stellen und die Rede von der Gesellschaft, die man vor dem Volk „schützen“ müsse, ist ein gedankenloses Unding. Ein weiteres Argument, das die Kritik an Volksentscheiden entkräften würde: Selbstverständlich sind auch Parlamentswahlen, denen die bundesrepublikanische Verfassung die Ausübung des Volkswillens (auf Bundes-, Landes- und Kommunalebene, also fast jedes Jahr einmal) zuweist, nicht vor populistischen Tendenzen gefeit. Sie sind auch keineswegs grundsätzlich vernünftiger in ihren Ergebnissen. Bestes beziehungsweise schlechtestes historisches Beispiel dafür: die Wahlerfolge der NSDAP in den 30er Jahren und die daraus resultierende Wahl Hitlers zum deutschen Regierungschef.
Und doch: Das Prinzip Volksabstimmung macht mich skeptisch. Ja, der eingeschliffene Betrieb der Parteiendemokratie ist oft zäh und zeigt sich manchmal auch handlungsunfähig, zum Ärger der Bürgerinnen und Bürger. Die ihm eingeborene Trägheit, die Angewiesenheit auf Mehrheiten, Fraktionszwänge und ähnliches sind die eine Seite. Die andere Seite ist eine Kontinuität und auch Verlässlichkeit einer Demokratie, die auf dem Vertreterprinzip basiert. Aber es ist ja bei weitem nicht etwa nur die jeweilige Regierung, welche die politische Wirklichkeit gestaltet – man denke nur an das System der zwei Kammern, wodurch noch längst nicht jedes mehrheitlich beschlossene Gesetz auch wirksam wird. Das Funktionieren der parlamentarischen, repräsentativen Demokratie beschränkt sich eben nicht auf die Ergebnisse einer einmal in vier Jahren getroffenen Entscheidung der Bevölkerung. Es ist ebenso sehr auch gebunden an das mehr untergründige politische Geschehen mit seinen eher langfristigen Willensbildungen in Ausschüssen, in den parteinahen Stiftungen, in gesellschaftlich relevanten Großorganisationen oder NGOs und wird nicht zuletzt auch durch die kritische Begleitung der medialen Öffentlichkeit geprägt. Der Soziologe Ulrich Beck fasste dieses Zusammenspiel unterschiedlicher gesellschaftlicher Kräfte einmal in das Bild eines fein austarierten Mobiles, jenes im Virtual Reality-Zeitalter etwas in Vergessenheit geratenen Deckenschmucks, bei dem Gebilde von unterschiedlicher Masse durch gegenseitigen Gewichtsausgleich in Balance gebracht werden – ein schöner Anblick. Ähnlich wie bei diesen Schmuckstücken aus Papier oder Holzfiguren hängt nach Beck auch das Wohl einer Gesellschaft von einem dynamischen Gleichgewicht der Kräfte ab.
Volksabstimmungen wirken für unser filigranes soziales Mobile wie ein Windstoß bei geöffnetem Fenster. Sie sind momentane und monothematische Konzentrationen des politischen Willens auf ein klar umgrenztes Motiv. Der Kompromiss, wie er dem Parteiensystem durch Koalitionsbildungen und andere Mechanismen inhärent ist, wird hier von vornherein ausgeschlossen, weil es nur um ein Ja oder Nein geht. Volksentscheide neigen zur Spaltung. Während eine nachhaltig orientierte Politik immer auf langfristige Folgen ausgerichtet sein sollte, haben Volksentscheide oft situative Anlässe und schöpfen aus zeitbedingten Atmosphären. In ihrem Verlauf profitieren sie von dem ohnehin meist mehr auf Effekte denn auf Argumente zielenden Medienbetrieb. Sie neigen zur Show – das kann gute Show sein wie bei den spektakulären Aktionen der Schweizer Grundeinkommens-Initiative oder schlechte Show wie bei Donald Trump, dem zwar viel Medienmacht, aber glücklicherweise nicht das Instrument der Volksabstimmung zur Verfügung steht.
Ein weiterer wesentlicher Unterschied: Durch die Wahl von Parteien und Abgeordneten entstehen Verantwortlichkeiten. Abgeordnete werden an dem gemessen, für das sie gewählt wurden. Werden Erwartungen enttäuscht und Aufträge nicht erfüllt, hat das Folgen für die Wiederwahl. Eine entsprechende Zuordnung von Verantwortlichkeit gibt es beim Volksentscheid nicht: Die Protagonisten eines Plebiszits müssen nicht selbst mit seinen Folgen umgehen, ja sie können sich sogar wie jüngst im Falle der Brexit-Organisatoren, nach einem Erfolg aus dem Staub machen und anderen die Arbeit überlassen.
Ein weiterer Grund, der für Volksabstimmungen angeführt wird: Die Befürworter erhoffen sich, durch dieses Instrument spezielle inhaltliche Positionen oder Gesetze durchzubringen, die auf dem Weg durch die parlamentarischen Strukturen nicht umsetzbar wären, jedenfalls nicht ad hoc. Die Volksabstimmung ist immer ein erhoffter Sonderweg. Aus dem bisher Ausgeführten wird man bereits schließen können, dass dieser Grund für mich gegen das Prinzip Volksabstimmung spricht.
Ich denke, der Parlamentarische Rat hat seinerzeit bei der Abfassung des Grundgesetzes mit Bedacht Volksabstimmungen auf Bundesebene nicht in Betracht gezogen, um die Stabilität der durch Parlamentswahlen legitimierten Regierungen nicht zu gefährden – dass unsere Verfassung also nicht eigentlich gegen direkte Demokratie, sondern bewusst für einen starken Parlamentarismus ausgerichtet ist. Ich habe bis vor kurzem geglaubt, dass die freiheitlich-demokratische Gesellschaftsform in Deutschland nach den vielen Jahrzehnten ihrer Praxis so stark ist, das es angesagt wäre, den Wirkungsraum der Bevölkerung auch durch Volksabstimmungen auf Bundesebene zu erweitern. Durch das Erstarken von Rechtsextremismus und demokratiefeindlichem Querfrontdenken bis in bürgerliche Mitte hinein zweifle ich inzwischen daran.
Regelrecht zum Ver-zweifeln bringt es mich, wenn ausgerechnet im Umfeld der um mehr Teilhabe bemühten Initiativen für mehr Demokratie Sätze fallen wie der, dass wir in Deutschland ohne Volksabstimmungen „gar keine echte“ Demokratie hätten. Hier wird die Polemik der Aktivisten dem Pegida-Hass gegen das parlamentarische System manchmal zum Verwechseln ähnlich und man frönt einer fundamentalistischen Systemkritik, die ich für gefährlich halte, weil sie in Zeiten des allerorten aufflammenden Neo-Totalitarismus ein Demokratiemodell untergräbt, das sich trotz aller Mängel in nunmehr fast sieben Jahrzehnten beispiellos in der deutschen Geschichte bewährt hat.
Was mich außerdem skeptisch stimmt: dass hier (übrigens ähnlich wie bei der Grundeinkommens-Idee) ein politischer Ansatz mit der Erwartung überfrachtet wird, allein aus einer strukturellen Veränderung heraus würde schon eine bessere Welt entstehen. Selbst wenn das Prinzip Volksabstimmung einmal etabliert wäre: eine Garantie für mehr politisches Engagement in der Bevölkerung oder für eine insgesamt sich vernünftiger entwickelnde Gesellschaft ist damit keineswegs verbunden. Volksabstimmungen können zu reaktionären Ergebnissen führen – Stichwort Minarettverbot, Stichwort Flüchtlinge – und unter Umständen die Beherrschung einer mobilisierten Minderheit über eine Mehrheit zum Resultat haben, wenn diese Mehrheit eben gar nicht zur Abstimmung gegangen ist.
Mein Fazit: Ich halte Volksabstimmungen nicht für grundsätzlich falsch, weil sie unter ganz klaren Auflagen, die z.B. einen grundgesetzwidrigen Missbrauch ausschließen, eine Erweiterung der demokratischen Kultur bedeuten könnten. Heilserwartungen sollte man damit nicht verbinden. Die derzeitige politische Großwetterlage ist auf jeden Fall kein guter Zeitpunkt, damit zu beginnen.
Einige Namen und Materialien für die Beschäftigung mit dem Thema Islam:
Navid Kermani – für mich DIE Autorität schlechthin im west-östlichen Dialog der Gegenwart: In seiner bewegenden Paulskirchen-Dankesrede anlässlich der Verleihung des Friedenspreises des Deutschen Buchhandels 2015 spricht er über den kulturellen Verfall des Islam und dessen Bruch mit seinen eigenen Traditionen.:
Der radikale Islamismus ist kein Phänomen erst des 21. Jahrhunderts, sondern deutlich älter: Ein Text aus der „Zeit“ über den Wahhabismus, die fanatische „reine Lehre“ im sunnitischen Islam vom 18. Jahrhundert bis zur Gegenwart Saudi Arabiens:
Warum es in Syrien zum Bürgerkrieg kam: Der aus Syrien stammende Schriftsteller Rafik Schami über die Wurzeln der Revolution und die Untätigkeit des Westens:
Sehenswerte Arte-Dokumentation über 100 Jahre Krieg und Chaos in der arabisch-islamischen Welt.
Professor Abdullah Takim (Universität Frankfurt) ist für mich ein wichtiger Gesprächspartner zum Verstehen des Islam. In diesem Interview nach den Attentaten von Paris spreche ich mit ihm über das Verbot willkürlicher Tötungen im Koran.
Professor Mouhanad Khorchide (Universität Münster) plädiert für einen islamischen Humanismus. Hier ein Auszug aus seinem aktuellen Buch „Gott glaubt an den Menschen“, das für mich ein Beispiel für das gelungene Miteinander von Glauben und Vernunft darstellt.
Der Begegnung mit Dr. Ibrahim Abouleish aus Ägypten verdanke ich den Anstoß, mich mit dem Islam zu beschäftigen. Aus seiner lebenslangen Beschäftigung mit dem Koran ist ein Weisheitsschatz entstanden, den es noch zu heben gilt. In diesem Interview, das schon einige Jahre zurückliegt, spricht er über das Verhältnis von Islam, Christentum und Anthroposophie.
Die sehr informative Website Quantara für den Dialog mit der muslimischen Welt hat ein kurzes Porträt über das von Ibrahim Abouleish aufgebaute und international gewürdigte Sekem-Projekt in Ägypten gebracht.
Tiere werden nur deshalb qualvoll gehalten und gegessen, weil wir Menschen uns für etwas Besonderes halten – mit dieser Formel wollen Ethiker wie Peter Singer und Tierrechtsaktivisten das Leiden der Nutztiere beenden. Was als Äußerung von Mitgefühl verständlich wirkt, zeigt sich bei näherer Betrachtung als fataler Rückschritt in der Entwicklung der Ethik: Denn mit der Erosion des Mensch-Tier-Unterschieds werden zwar Schimpansen und Delfine zu Personen erklärt, die am meisten schutzbedürftigen Menschen aber fallen aus dem Rahmen der Grundrechte heraus. Eine kritische Auseinandersetzung mit der Ideologie der „Anti-Speziesisten“.
Immer wieder machen im Internet Meldungen Furore, denen zufolge in Indien oder Florida Delfinshows ab sofort verboten seien. Begründung: Gerichte hätten Delfine endlich „als Personen anerkannt“. „Die Delfine in Indien haben nun einen Status, den wir auch allen anderen fühlenden Lebewesen auf der Welt wünschen“, verkündet etwa die Website von Animalequality. Was ist an solchen Meldungen dran? Sicher bedeutet es einen Fortschritt, wenn diese wunderbaren Meeressäuger, die jeden Tag Kilometer weit die Ozeane durchpflügen, nicht länger eingepfercht in Swimmingpools leben müssen. Zweifelhaft wirkt aber die Begründung, die von dieser und anderen Tierschützer-Websites (manchmal auch in Bezug auf Primaten) verbreitet und weltweit gedankenlos weitergeleitet wird: Zwar sind uns Delfine oder auch Menschenaffen mit ihrem erstaunlichen Kommunikationsvermögen und ihrer anrührenden Heiterkeit sehr nah. Aber sind sie deshalb „Personen“? Und – so sehr wir auch jeden Schritt hin zu weniger Qual und Ausbeutung von Tieren begrüßen sollten – müssen wir erst Delfine zu „nicht menschlichen Personen” erklären, um auf ihre quälerische Zurschaustellung zu verzichten?
Bumerang „Anthropozentrik“
Die Aufhebung der Grenze zwischen Mensch und Tier steht als Programm hinter fast allen Tierrechtsaktivitäten, und auch in Teilen der veganen Bewegung wird diese Botschaft oft unkritisch weitergetragen. Philosophisch bündelt sie sich in dem sperrigen Programmbegriff des „Anti-Speziesismus“. Dieser Richtung zufolge ist die Reklamation eines besonderen Status des Menschen als Gattung durch nichts zu rechtfertigen und stellt lediglich einen autoritären Akt dar, ähnlich wie auch beim Imperialismus, Rassismus oder Sexismus eine herrschende Gruppe sich eine angebliche Überlegenheit selber zuschreibt, um andere unterdrücken zu können. Der Anti-Speziesismus versteht sich demnach als konsequente Stufe eines umfassenden Emanzipationsprozesses.
Nach alldem, was durch den Menschen an geschichtlichen Untaten untereinander, an Frevel an seinen Mitgeschöpfen und an Rücksichtslosigkeit gegenüber dem Planeten Erde geschehen ist und weiter geschieht, scheint es aussichtslos, gegenüber dem Anti-Speziesismus einen moralischen Sonderstatus des Menschen zu verteidigen. Philosophische Versuche, die Kriterien von Selbstbewusstsein, Freiheit, Vernunft und Verantwortungsfähigkeit als genuin menschliche Fähigkeiten zu reklamieren, werden in Diskussionen durch Verweis auf diesen oder jenen erstaunlichen wissenschaftlichen Beleg über kulturellen Fähigkeiten von Tieren rasch abgetan. Vor allem aber führt das praktische Versagen der Gattung Mensch jeden Anspruch auf einen Sonderstatus ad absurdum. Die hergebrachte humane Ethik sei eben letzten Endes anthropozentrisch, so die vernichtende Antwort, so wie auch der Speziesismus anthropozentrisch sei.
Der Speziesismus-Vorwurf geht allerdings mit einem unvermeidlichen Bumerang-Effekt einher: Denn es ist nun einmal der Grundzug von uns Menschen, dass wir uns – eben darin anders als jedes Tier und schon von Beginn aller Menschwerdung an so unbegreiflich anders – aus der Welt heraus- und uns ihr gegenüberstellen, uns Gedanken über sie und unsere Stellung in ihr machen, nach Zusammenhängen suchen, die den Tieren so unmittelbar gegeben sind, dass sie nur ihrem Wesen folgen müssen, um fraglos zufrieden zu sein. Mit dem Gegebenen aber gibt sich kein Mensch zufrieden. Menschen müssen denken. Und selbst der Gedanke, dass wir alles nur nach Maßgabe unseres Menschseins betrachten und beurteilen, ist vom Zentrum des Menschseins aus gedacht, mithin anthropozentrisch. Schließlich entspringt ja auch der Anti-Speziesismus nicht einem Emanzipationsdrang der Tiere, sondern ist Resultat einer spezifisch menschlichen Selbstreflexion, die seine Stellung im Ganzen der Welt betrifft. Den anthropozentrischen Fluch wollen wir los werden, der Mensch soll nichts Besonderes mehr sein gegenüber dem Tier, und doch sollen um alles in der Welt Tiere den gleichen, hohen Rang haben wie er, den er doch angeblich gar nicht verdient – wie viel Selbsthass auf die Menschheit steckt eigentlich im Anti-Speziesismus?
Tiere schützen – und Menschen mit Behinderung töten?
Wie eng das Bemühen um eine Erweiterung der Tierethik und die faktische Einschränkung der Ethik gegenüber dem Menschen systematisch verzahnt sind, zeigt sich im Werk des australischen Tierrechtlers Peter Singer. Die vielfach kritisierten behindertenfeindlichen Schlüsse von Singer sind dabei keineswegs Missverständnisse seiner Lehre, sondern nachlesbare Ungeheuerlichkeiten und vor allem logische Konsequenz seiner Leidvermeidungs-Ethik, die bereits seit seinem Mitte der 1980er Jahre erschienenen Buch Praktische Ethik öffentlich vorliegt. Seither hat sich an den Eckpfeilern seiner Philosophie nichts geändert: Weil es keine rational konsensfähige Basis für Ethik gibt, soll nach Singer der einzig akzeptable gemeinsame Nenner ethischen Verhaltens das Vermeiden oder zumindest Verringern von Leid sein. Daran hätten alle Lebewesen – nicht allein Menschen, sondern auch „nicht-menschliche Personen“ – ein Interesse. Nicht mehr zwischen Mensch und Tier soll also die rote Linie verlaufen, sondern zwischen Interessenfähigkeit und -unfähigkeit. Wer kein Bewusstsein seiner Interessen hat, auf den muss allerdings auch nicht länger Rücksicht genommen werden. Damit entstehen Grauzonen vor allem am Lebensanfang und Lebensende von Menschen, aber auch dort, wo Menschen physische oder geistige Beeinträchtigungen mit ins Leben bringen. Und die Frage, ob ein behinderter Mensch wohl Interesse an einem Leben hätte, dessen Verlauf man mehr Leid unterstellt als einem „normalen“, beantwortet Singer im Namen der Betroffenen mit der Empfehlung, dass Eltern im Falle einer entsprechenden Diagnose doch besser die Schwangerschaft abbrechen und auf ein nicht-behindertes Kind warten sollten – die Summe des Leids wäre dann geringer.
Mehr als Rationalität
Der Erfolg der Philosophie Singers und der Animal Rights-Aktivisten, der sich nicht zuletzt in den unkritischen „Gefällt mir“-Klicks für die Delfin-Personen auf Facebook spiegelt, erklärt sich aus zweierlei: Zum einen ist das Tötungsverbot unter Menschen nach dem Abschmelzen seiner religiös-metaphysischen Fundamente tatsächlich nur noch schwer zu begründen, zum anderen ist das schlechte Gewissen des Menschen über sich selbst angesichts seines frevlerischen Umgangs mit Tieren mehr als berechtigt. In dieser Gemengelage übt die Singer’sche Leidvermeidungs-Ethik einen starken Sog aus. Demgegenüber wird es, nüchtern besehen, auch in Zukunft keinen rein rationalen Grund dafür geben, Menschen mit Behinderung das volle Lebensrecht zuzugestehen und die Zumutung eines Tötens aus Mitleid zurückzuweisen als den historisch – zum Teil durch schreckliche Erfahrungen – gewachsenen und gesellschaftlich kodifizierten Willen, auch und gerade den schwächsten Mitgliedern unserer Gattung den Schutz der Menschenrechte zuzugestehen. Den Menschen als personhaft von Beginn an zu betrachten, als auf Entfaltung angelegte, untrennbar leiblich-geistige Einheit – selbstverständlich auch im Falle von Behinderungen –, ist nicht als rationale Begründung zu haben und lohnt dennoch philosophisch verteidigt zu werden. Die Tiere aber sollten wir nicht aus Mitgefühl zu Menschen machen, sondern sie als das sehen, was sie für sich sind: ihrer selbst nicht bewusste, aber intensiv fühlende Wesen, für die es keine Tier-Rechte, jedoch einen erheblich erweiterten Tier-Schutz geben muss, der ihrer eigenen Würde gerecht wird.
Wie wohl die meisten bin ich derzeit tief bewegt von den Schicksalen der zu uns flüchtenden Menschen. Eines berührt mich dabei besonders: Es sind die enormen Hoffnungen, die diese Menschen auf „uns im Westen“ setzen, und die Wertschätzung, die sie uns dadurch entgegenbringen. Bei allen Fehlern und Versäumnissen, die der Westen in der Vergangenheit gemacht hat: Die westliche Welt, Europa, speziell auch Deutschland, sind offensichtlich für Notleidende aus Nahost und Afrika ein Ziel von größter Attraktivität. Das betrifft keineswegs nur den hier erhofften, besseren Lebensstandard. Es geht auch um das, was Wohlstand eigentlich erst möglich macht: langfristig stabile politische Verhältnisse auf der Basis von Grundrechten, ein unabhängiges Rechtswesen, transparente soziale Verwaltungen, und nicht zuletzt die Freizügigkeit in der persönlichen Entfaltung von wirtschaftlicher und kultureller Initiative und einer ganz persönlichen Lebensweise. In Europa ist es ein garantiertes Grundrecht, seine Lebensweise individuell zu bestimmen, ob religiös, politisch oder sexuell. Unter diesen Voraussetzungen gibt es in Europa seit nunmehr fast zwei Generationen Frieden – das vielleicht von den Flüchtlingen am meisten ersehnte Gut.
Leichtfertige Relativierung
Eines missfällt mir gerade angesichts der Schutzsuchenden in diesen Tagen: dass bei uns nicht wenige Intellektuelle dazu neigen, die westlichen Grundwerte zu relativieren. Wie oft höre und lese ich Äußerungen wie „Wir haben doch hier auch keine wirkliche Demokratie“ oder „Die Politiker sind doch hier auch nicht besser als in Russland“. Man betont die Fehler und Schwächen des „Systems“, kritisiert „die Medien“, beklagt die Harzt IV-Regelungen, die Geldgier der Banken oder kritisiert das politische Parteiensystem insgesamt als „überholt“, weil man etwa Elemente der Direkten Demokratie vermisst. Während solcherlei „Systemkritik“, angefangen von der Linken quer durch die bürgerliche Mitte bis hin zu Pegida Beifall findet, sprechen die Flüchtlingsströme eine andere Sprache.
Sie erinnern uns aber auch daran, dass der Westen, speziell Europa, in der jüngsten Vergangenheit zu sehr mit sich selbst beschäftigt war und in dem Glauben lebte, die eigene Komfortzone an seinen Rändern abschotten zu können. Ich plädiere dennoch dafür, hier nicht in Selbstvorwürfe zu verfallen, nicht die Versäumnisse des Westens für alles Elend in der Welt verantwortlich zu machen, sondern die Perspektive einmal umzudrehen: Haben wir, genau besehen, nicht etwa zu viel, sondern vielleicht zu wenig Einfluss auf die Welt genommen? Haben wir selbst allzu sehr von dem „Modell“ aus Menschenrechten, Demokratie und Freizügigkeit profitiert, ohne gleichzeitig auch zu Opfern bereit zu sein, wenn es um die Lage in unseren Nachbarregionen geht? Da hieß es leicht: Nur keine Einmischung mit unserer „westlichen Dominanz“! Nur kein „Eurozentrismus“! Die Willensentscheidung der Flüchtlinge für ein besseres Leben im Westen zeigt anderes, nämlich dass die hier gültigen Werte tatsächlich für Menschen auch aus ganz anderen Kulturkreisen attraktiv sind. Wäre es nicht angemessen, wenn wir uns künftig selbstbewusster, aktiver und offensiver für ihre Geltung einsetzen würden, in den Krisenregionen der Welt, aber auch hier bei uns?
Menschenrechte als Basis für Entwicklung
Ich bin entschieden dafür, weniger zu jammern, das Schimpfen über die Fehler anderer einzustellen und die kreativen Möglichkeiten zu nutzen, die uns hier im Westen so vergleichsweise überreich offen stehen. Dabei können und sollen sich unsere Wertegrundlagen sicher auch weiterentwickeln und neue Dimensionen eröffnen. Ich denke hier besonders an die Herausforderung eines Dialogs der Kulturen und Religionen. Dieser wird umso besser gelingen können, als es gemeinsame Begegnungsräume gibt, die gleichsam „oberhalb“ der unterschiedlichen kulturellen und/oder religiösen Ausprägungen das gemeinsame Allgemein-Menschliche suchen und würdigen. Die Idee der universellen Menschenrechte lebt ja bereits von der Annahme, dass so etwas existiert. Sie kann aber noch eine Weiterentwicklung erfahren, wenn aus den unterschiedlichsten Weltsichten heraus ein Bewusstsein für die geistige Einheit der Menschheit, einer tieferen Ungetrenntheit, geteilt werden kann. Echte, aktive Toleranz entsteht aus der Erfahrung des All-Einen in der Vielfalt der Traditionen. Hier liegt ein bisher noch wenig gesehenes spirituelles Potenzial der westlichen Welt, das es zu heben gilt und das in der aktuellen Situation des Aufeinandertreffens der Kulturen von Bedeutung ist. Denn gerade etwa in der Begegnung mit dem Islam, aber auch mit religiös geprägten Menschen aus Afrika und Asien zeigt sich, dass dem Westen bei all seiner perfekten Beherrschung der äußerlich-materiellen Welt und dem gelungenen Aufbau einer säkularen Ordnung ein Sinn für die „Innenseite der Welt“ abhanden gekommen ist. Nach dieser „Innenseite“ fragen uns auch viele Flüchtende, und werden es wohl noch mehr tun, wenn sie hier Teil der Gesellschaft werden. Die Suche nach der spirituellen Dimension der westlichen Welt kann dabei helfen, die Sprachfähigkeit des Westens im Dialog der Kulturen zu verbessern.
Ein Labor des Dialogs
Mit diesen Überlegungen ist der Rahmen umrissen, dem sich die Herbstakademie Frankfurt vom 6. bis 8. November diesen Jahres widmen möchte. Das Projekt „Herbstakademie“ bietet seit nunmehr zehn Jahren ein inter-spirituelles Forum, auf dem sich Menschen verschiedener Richtungen in der Bemühung treffen, Aufklärung und Transzendenz zu verbinden.
Einer der besonders spannenden Gäste ist diesmal der im Islam verwurzelte Amir Nasr, der als fundamentalistischer Muslim aufwuchs, durch eine atheistische Phase des Zweifels ging und im Rahmen einer integralen Weltsicht die Möglichkeit fand, seinem Glauben, vernünftigem Denken und spiritueller Erfahrung gleichermaßen Raum in sich zu geben. Weitere Beispiele aus dem Programm: Sonja Student wird den tiefen humanistischen Wert darstellen, der sich in der Entwicklung der Kinderrechte zeigt; die Künstlerin Dorothea Walter arbeitet unter dem Motto „In Erwartung der Zärtlichkeit“ am Thema der Frauenrechte in Schwellenländern und zeigt eine Performance; Jost Schieren befasst sich mit einem der größten und gleichzeitig noch am meisten übersehenen Repräsentanten einer westlichen Spiritualität: es ist Goethe, der da, wo die Wissenschaft nur Materie sieht, die Natur- und Sinnesanschauung zu einer tieferen Verbindung von Welt und Seele weiterentwickelt. Weitere Beiträge beschäftigen sich mit dem Freiheitsverständnis der westlichen Kultur, mit der Rolle des Rechts und dem Thema Spiritualität in der Welt.
Wenn diesmal bei der Herbstakademie das Wort von der „westlichen Welt“ als Aufgabe ansteht, wird das nicht anders gehen, als dass die Zeitereignisse dabei mit hineinspielen. Politische Lösungsvorschläge sind dabei nicht unsere Aufgabe. Ich sehe diese drei Tage der Herbstakademie als einen Raum der tiefen Besinnung jenseits des Meinungstrubels, als ein Dialog-Labor, das mit inhaltlichen Impulsen, achtsamen Dialogen und Meditationen neue Perspektiven eröffnet. Ich freue mich auf fruchtbare Begegnungen.
Für viele, wenn nicht für die meisten Menschen der westlichen Welt, stellt die Rede von Gott heute eher eine Unmöglichkeit dar. Mit dieser Ausgangsposition rechnet auch der Philosoph Holm Tetens. In unserer wissenschaftlich geprägten Zeit, so der an der Freien Universität Berlin lehrende Professor, macht sich jemand, der im akademischen Umfeld ernsthaft über Gott nachdenken will, ähnlich verdächtig als wenn er Frau Holle für ein reales Wesen halten würde. Dennoch lautet der Titel seines Buches „Gott denken“. Tetens setzt damit zu nichts Geringerem an denn zu einer „rationalen Theologie“, wie der Untertitel lautet. Dass so etwas überhaupt möglich sein soll, rational – also vernünftig – über Gott zu denken, dürften indessen nicht nur eingefleischte Materialisten (Tetens spricht lieber von „Naturalisten“) bezweifeln, sondern auch nicht wenige religiöse oder spirituelle Menschen, die zwar an Gott glauben, dies aber vor allem als Sache des Gefühls oder des „Spürens“ ansehen und das Denken eher als Störfaktor einschätzen. Nicht so Holm Tetens, im Gegenteil. Einer seiner verblüffenden Gedanken liegt gerade darin, dass es zur konsequent gedachten Idee Gottes gehört, dass sie eben auch denkbar ist, ja mehr noch: „Gott denkt sich selbst durch den Menschen“, sagt Tetens. Aber der Reihe nach.
Naturalismus als Metaphysik
Wo nimmt Tetens den Ausgangspunkt, die Denkbarkeit Gottes zu verfolgen? Er bestreitet nicht, dass die großen philosophisch-theologischen Gottesbeweise gescheitert sind und die herrschende Weltsicht des Naturalismus keinen Raum für metaphysische Annahmen lässt. Aber genau hier setzt Tetens an. Denn der Naturalismus selbst sei keineswegs eine voraussetzungslos aus den Resultaten der Wissenschaften folgende, wie selbstverständlich gültige Position, sondern beruhe selbst auf einer metaphysischen, unbeweisbaren Grundannahme: Nämlich der, dass die Welt aus zufällig entstandenen, rein physikalischen Tatsachen bestehe. Diese Annahme ist aber keineswegs das Ergebnis der Wissenschaft, sie bildet vielmehr ihre Voraussetzung. Aus dieser Wissenschaft mit eben dieser Voraussetzung resultiert dann zwangsläufig die Anschauung, wonach die Welt aus zufälligen, objektiven physikalischen Tatsachen erklärbar ist. In diesem Weltbild klafft jedoch eine wesentliche Lücke. Sie betrifft die Rolle jener erlebnisfähigen Wesen, die solche und andere Erklärungen überhaupt abliefern. Denn diese sind keineswegs als „objektive“ Phänomene in Art äußerer Tatsachen erklärbar. Rein erfahrungswissenschaftliche Beschreibungen der Welt, die das Phänomen „selbstreflexiver Ich-Subjekte“ (Tetens) ausklammern, sind aber notwendig unvollständig. Dass die meisten Menschen es weder bemerken noch dass es sie zu stören scheint, wenn die Rolle ihres eigenen Bewusstseins wissenschaftlich komplett ausgeklammert wird, macht die Sache nicht besser. Zu welchen Widersprüchen es führt, die mental-geistige Dimension rein aus physikalischen Sachverhalten erklären zu wollen, hat zuletzt das Buch „Geist und Natur“ des bekannten Philosophen Thomas Nagel gezeigt, auf den sich auch Tetens beruft. Da der Naturalismus also weder voraussetzungslos dasteht noch so eine entscheidende Frage wie das Leib-Seele-Problem zu lösen in der Lage ist, will Tetens einer anderen Denkmöglichkeit nachgehen: Der These nämlich, dass die Welt und die Position des Menschen darin einschließlich seines Erkennens und Handelns Ergebnis einer göttlichen Ordnung ist.
Unendlichkeit denken
Die These Gott an den Anfang zu stellen bedeutet nun keineswegs, hier den sprichwörtlichen Deux ex machina zu bemühen und die Welt anstelle mit harter Wissenschaft durch einen naiven Kreationismus zu erklären. Tetens sieht Gott vielmehr als den „Urgrund des Seins (der Wirklichkeit), er ist die alles bestimmende Wirklichkeit“. Tetens greift hier die Philosophie des deutschen Idealismus auf und bestimmt Gott im Rückgriff auf Hegel als ein „unendliches Ich-Subjekt“, das „weder epistemisch (die Erkenntnis betreffend) noch in dem, was es will, durch etwas beschränkt und begrenzt ist, was es selber nicht ist“. Das ist zunächst vor allem eines: schlüssig denkbar. Der aus der Tradition bekannte Begriff der göttlichen Allwissenheit wird in philosophischer Perspektive zu dem Gedanken, dass Gott als unendliches Wesen alles zu denken und zu erkennen vermag. Gottes Denken ist uneingeschränkt vernünftig, so Tetens. Das eröffnet umgekehrt auch die Perspektive, dass wir Menschen durch unsere Vernunft tatsächlich Gottes Schöpfung – in Form der Naturgesetze vor allem – auch erkennen können. Die Weltordnung eines unendlichen, allwissenden und allmächtigen Gottes kann gar nicht anders beschaffen sein als so, dass der Mensch in ihr die Möglichkeit des Erkennens hat.
Anders als im Rahmen des Naturalismus, wo der Mensch als verlorener Irrläufer in einem sinnlosen Universum gilt, erscheinen in diesem theistisch-idealistischen Entwurf Gott, Welt und Mensch innig aufeinander bezogen. Tetens gibt sich daher auch offen als ein Vertreter des – oft geschmähten – anthropischen Prinzips zu erkennen. Demnach ist „das physikalische Universum von Anfang an darauf angelegt (…), dass in ihm eines Tages Menschen in Erscheinung treten, für die es wesentlich ist, im Gedankenaustausch miteinander zumindest partiell das Universum intersubjektiv zu beobachten und zu erkennen… Materie soll erkannt, bearbeitet, umgestaltet, verschönert werden und in all diesen Tätigkeiten mit Geist erfüllt und zum immer klareren Ausdruck des Geistes werden“.
Freiheit und „Gericht“
Zur Göttlichkeit der Welt gehört auch die Möglichkeit der Freiheit des Menschen. Hier nähern wir uns dem herausfordernden Feld der Theodizee, zu welchem Tetens ebenfalls überraschende Perspektiven eröffnet. Gott will als Allmächtiger alles, was der Fall ist – aber nicht alles was der Fall ist, wird von ihm auch gut geheißen. Manches lässt er nur zu – die Möglichkeit menschlicher Verfehlung vor allem, weil ohne sie keine freie Moralität möglich wäre, sondern nur ein moralischer Automatismus. Das saubere Herausarbeiten dieser Konstellation von Gottes Wille, Freiheit und moralischer Verfehlung geht weit über das oft platte Konstatieren einer „Notwendigkeit“ des Bösen in der Welt und irgendwelchen im Weltenplan vorgesehenen Opfern hinaus. Gott will, dass die Schöpfung am Ende gut wird – dafür braucht es echte Freiheit mit der Möglichkeit des Bösen.
Die höchsten Gipfel erreicht der Gedankengang von Holm Tetens, wenn er das Thema Erlösung behandelt – eine Dimension, die unzweifelhaft notwendig zur Idee eines unendlichen und unendlich machtvollen Wesens dazugehört. Wem sich vielleicht bisher schon die postmodernen Haare gesträubt haben mögen, dem werden sie sich erst Recht im Nacken aufstellen wenn Tetens nun zum Konzept der Erlösung auch noch den traditionell-religiösen Begriff des „Gerichts“ bemüht. Tatsächlich folgert Tetens, dass die von Gott gewollte Schöpfung ohne ein Gericht gar keinen Sinn ergibt: Ohne ein „Gericht“, bei dem es allerdings für Tetens weniger um finale Bestrafung denn um Einsicht, Versöhnung und Vergebung geht, „wäre Erlösung ein Geschehen, in dem die Menschen gar nicht als vernünftige und selbstverantwortliche Personen ernst genommen würden. Wer vom Gericht nicht reden will, sollte daher von Erlösung schweigen.“
Es ist spannend, dass der Gedanke einer – wie auch immer gearteten – nachtodlichen Existenz des Menschen sich hier als Konsequenz einer gerechten, auf Erlösung zielenden Weltordnung ergibt. All die unbeschreiblichen Untaten, all das verübte und erlittene Unrecht auf Erden wird nicht das letzte Wort sein. Eine göttliche Ordnung kann und wird „niemanden endgültig verloren geben“, zitiert Tetens ein wunderbares Wort Walter Benjamins – und weist nicht nur damit auf das unvergleichliche Quantum Trost, das von einer mit Gott gedachten Welt ausgeht.
Ausblicke von Gipfeln
Holm Tetens Buch ist eine Einladung im besten Sinne, ohne jeglichen missionarischen Anflug des Überzeugen-Wollens und im permanenten Bewusstsein der möglichen Einwände geschrieben, die in einer naturwissenschaftlich geprägten Zeit so nahe liegen. Seine dichten, knapp 90 Seiten eignen sich weniger für leicht zustimmungsfähige Facebook-Postings über Gott, sondern bieten hartes Denkbrot, das über manche Strecken eher an Mathematik als an Theologie erinnert. Gerade durch die nüchterne, sich seiner Grenzen stets bewusste Zurückhaltung des Autors führt das Buch in eine Tiefe, in der man immer wieder darüber staunt, nur durch konsequentes Denken in sie hineingeraten zu sein. Die so gewonnenen Ausblicke auf das Wesen Gottes haben die Wirkung mühsam erkämpfter Gipfelpanoramen, sie sind ebenso weit entfernt von Kirchentags-Religiosität wie auch von mancher sich spirituell nennenden Rede von Gott, die das Ausblenden der denkenden Vernunft aus dem Umgang mit dem Höchsten für einen Vorteil hält. Wer in seinem eigenen Suchen nach Gott dem Denken Raum geben möchte, wird dieses Buch mit Gewinn lesen.
Holm Tetens: Gott denken. Ein Versuch über rationale Theologie. Reclam Stuttgart 2015, 96 Seiten, € 5,-
Wie lässt sich Dogmatismus vermeiden, der auf allen Feldern der Kultur, nicht nur in der Religion, sondern auch in Kunst und Wissenschaft so oft Freiheit und unbefangenes Forschen und Experimentieren hemmen will? Wie der Tendenz zum Festhalten an Wortlauten und Formeln entgegenwirken, die jeder echten Entwicklung entgegenstehen? Besonders Religionen und spirituelle Richtungen scheinen von Erstarrung bedroht. Denn meist haben die wirkmächtigen Gestalten an ihren Anfängen Schriften oder Anweisungen in großer Fülle hinterlassen, die man offenbar nur richtig befolgen muss, um die „wahre Lehre“ fortzusetzen.
Rudolf Steiner hat diese auch für die Anthroposophie bestehende Gefahr wohl gesehen. Einen wichtigen Hinweis zum Umgang damit hat er in eines seiner Mysteriendramen hineingelegt – und dabei durch die Form einer szenischen Aufstellung eine besonders eindrückliche Form gewählt, wie sie eine nur theoretische Erörterung kaum entfalten würde. Im zweiten dieser nicht leicht zugänglichen Theaterstücke (7. Bild) entwirft Steiner folgende Situation:
Wir befinden uns im Mittelalter, und ein Angehöriger eines Mönchsordens wird mit den Mitgliedern einer esoterischen Ritter-Bruderschaft konfrontiert, die er aufgrund der ihm fremden Riten und Denkweisen als „Ketzer“ glaubt bekämpfen zu müssen, obwohl sie ihm auf menschlicher Ebene durchaus imponieren. Diese Konstellation entspricht vollkommen der historischen Situation im Hochmittelalter, als sich insbesondere der Dominikanerorden auf die inquisitorische Verfolgung von damals neu hervortretenden Strömungen des Christentums zu spezialisieren begann. Der verwirrte Mönch wendet sich in einer Meditation an den bereits verstorbenen großen Lehrer seines Ordens. Dieser erscheint ihm auch und gibt dem Mönch einen völlig unerwarteten Rat: Bei er Bekämpfung der sogenannten Ketzer, so der Ordenslehrer mit Namen Benedictus, könnten sich seine Schüler zwar auf jene Worte stützen, die er (Benedictus) „im Erdensein gesprochen“ habe – es gibt also offenbar Zitate und Wortlaute, mit denen klar zu belegen wäre, dass zum Beispiel die geistigen Ziele des „ketzerischen“ Ritterodens „Geistessünde“ seien und ausgemerzt gehörten. Nun aber folgt die entscheidende Erklärung des Ordenslehrers, als dessen historisches Vorbild man unschwer den bedeutenden Kirchenlehrer Thomas von Aquin erkennt, auf dessen Wortlaute sich die blutigen Ketzerverfolgungen des Mittelalters berufen konnten. Benedictus weiter:
„Sie ahnen nicht, dass diese Worte Sich lebend nur erzeugen können,
Wenn sie im rechten Sinne fortgebildet werden
Von jenen, welche meiner Arbeit Folger sind.“
Worte für sich allein genommen, auch höchste und heiligste, bilden also noch keineswegs eine Garantie für Wahrheit – sie können sogar schädlich, ja destruktiv werden. Es kommt also darauf an zu begreifen, so der Lehrer, dass sich Worte nur als „lebend“ erweisen können, wenn sie „im rechten Sinne fortgebildet werden“. Nicht das, was eine Lehre oder ein Lehrer bereits geworden ist, ist im Zweifelsfall wahrhaft orientierend. Der Ordenslehrer fordert den Mönch vielmehr dazu auf, diejenigen, die er der wörtlichen Auslegung der einstigen Lehrer-Worte zufolge für Ketzer hält, in jenem Licht zu sehen, in dem er selbst sie heute sehen würde, wenn er als Mensch gegenwärtig lebte.
Der Mönch reagiert zunächst so, wie wohl viele treue Glaubensbrüder bis heute reagieren: Er meint, diese Mahnung weiche „gewaltig ab von allem, was mir bisher als richtig wollte scheinen“. Das ist ja genau die Herausforderung: dass manches in einer veränderten Zeitsituation tatsächlich „gewaltig“ das bisher als richtig Geglaubte erschüttern kann! Dennoch kann eine solche, nur traditionalistisch begründete Empfindung schlimme Folgen haben – bisweilen sogar tödliche.
Steiner macht hier deutlich: Die Aufgabe einer individuellen Weiterentwicklung, die zum Beispiel den eingetretenen Erkenntnis- und Bewusstseinsfortschritt einer Zeit berücksichtigt, kann keine Lehre und kann kein Lehrer den Menschen abnehmen. Auch für spirituelle Richtungen gilt das Goethewort von der „geprägten Form, die lebend sich entwickelt“.