Die Flüchtlingskrise: Eine Frage an die westliche Zivilisation

 

Zugleich ein Vorblick auf die 10. Herbstakademie Frankfurt vom 6.-8. November

Wie wohl die meisten bin ich derzeit tief bewegt von den Schicksalen der zu uns flüchtenden Menschen. Eines berührt mich dabei besonders: Es sind die enormen Hoffnungen, die diese Menschen auf „uns im Westen“ setzen, und die Wertschätzung, die sie uns dadurch entgegenbringen. Bei allen Fehlern und Versäumnissen, die der Westen in der Vergangenheit gemacht hat: Die westliche Welt, Europa, speziell auch Deutschland, sind offensichtlich für Notleidende aus Nahost und Afrika ein Ziel von größter Attraktivität. Das betrifft keineswegs nur den hier erhofften, besseren Lebensstandard. Es geht auch um das, was Wohlstand eigentlich erst möglich macht: langfristig stabile politische Verhältnisse auf der Basis von Grundrechten, ein unabhängiges Rechtswesen, transparente soziale Verwaltungen, und nicht zuletzt die Freizügigkeit in der persönlichen Entfaltung von wirtschaftlicher und kultureller Initiative und einer ganz persönlichen Lebensweise. In Europa ist es ein garantiertes Grundrecht, seine Lebensweise individuell zu bestimmen, ob religiös, politisch oder sexuell. Unter diesen Voraussetzungen gibt es in Europa seit nunmehr fast zwei Generationen Frieden – das vielleicht von den Flüchtlingen am meisten ersehnte Gut.

Leichtfertige Relativierung

Eines missfällt mir gerade angesichts der Schutzsuchenden in diesen Tagen: dass bei uns nicht wenige Intellektuelle dazu neigen, die westlichen Grundwerte zu relativieren. Wie oft höre und lese ich Äußerungen wie „Wir haben doch hier auch keine wirkliche Demokratie“ oder „Die Politiker sind doch hier auch nicht besser als in Russland“. Man betont die Fehler und Schwächen des „Systems“, kritisiert „die Medien“, beklagt die Harzt IV-Regelungen, die Geldgier der Banken oder kritisiert das politische Parteiensystem insgesamt als „überholt“, weil man etwa Elemente der Direkten Demokratie vermisst. Während solcherlei „Systemkritik“, angefangen von der Linken quer durch die bürgerliche Mitte bis hin zu Pegida Beifall findet, sprechen die Flüchtlingsströme eine andere Sprache.

Sie erinnern uns aber auch daran, dass der Westen, speziell Europa, in der jüngsten Vergangenheit zu sehr mit sich selbst beschäftigt war und in dem Glauben lebte, die eigene Komfortzone an seinen Rändern abschotten zu können. Ich plädiere dennoch dafür, hier nicht in Selbstvorwürfe zu verfallen, nicht die Versäumnisse des Westens für alles Elend in der Welt verantwortlich zu machen, sondern die Perspektive einmal umzudrehen: Haben wir, genau besehen, nicht etwa zu viel, sondern vielleicht zu wenig Einfluss auf die Welt genommen? Haben wir selbst allzu sehr von dem „Modell“ aus Menschenrechten, Demokratie und Freizügigkeit profitiert, ohne gleichzeitig auch zu Opfern bereit zu sein, wenn es um die Lage in unseren Nachbarregionen geht? Da hieß es leicht: Nur keine Einmischung mit unserer „westlichen Dominanz“! Nur kein „Eurozentrismus“! Die Willensentscheidung der Flüchtlinge für ein besseres Leben im Westen zeigt anderes, nämlich dass die hier gültigen Werte tatsächlich für Menschen auch aus ganz anderen Kulturkreisen attraktiv sind. Wäre es nicht angemessen, wenn wir uns künftig selbstbewusster, aktiver und offensiver für ihre Geltung einsetzen würden, in den Krisenregionen der Welt, aber auch hier bei uns?

Menschenrechte als Basis für Entwicklung

Ich bin entschieden dafür, weniger zu jammern, das Schimpfen über die Fehler anderer einzustellen und die kreativen Möglichkeiten zu nutzen, die uns hier im Westen so vergleichsweise überreich offen stehen. Dabei können und sollen sich unsere Wertegrundlagen sicher auch weiterentwickeln und neue Dimensionen eröffnen. Ich denke hier besonders an die Herausforderung eines Dialogs der Kulturen und Religionen. Dieser wird umso besser gelingen können, als es gemeinsame Begegnungsräume gibt, die gleichsam „oberhalb“ der unterschiedlichen kulturellen und/oder religiösen Ausprägungen das gemeinsame Allgemein-Menschliche suchen und würdigen. Die Idee der universellen Menschenrechte lebt ja bereits von der Annahme, dass so etwas existiert. Sie kann aber noch eine Weiterentwicklung erfahren, wenn aus den unterschiedlichsten Weltsichten heraus ein Bewusstsein für die geistige Einheit der Menschheit, einer tieferen Ungetrenntheit, geteilt werden kann. Echte, aktive Toleranz entsteht aus der Erfahrung des All-Einen in der Vielfalt der Traditionen. Hier liegt ein bisher noch wenig gesehenes spirituelles Potenzial der westlichen Welt, das es zu heben gilt und das in der aktuellen Situation des Aufeinandertreffens der Kulturen von Bedeutung ist. Denn gerade etwa in der Begegnung mit dem Islam, aber auch mit religiös geprägten Menschen aus Afrika und Asien zeigt sich, dass dem Westen bei all seiner perfekten Beherrschung der äußerlich-materiellen Welt und dem gelungenen Aufbau einer säkularen Ordnung ein Sinn für die „Innenseite der Welt“ abhanden gekommen ist. Nach dieser „Innenseite“ fragen uns auch viele Flüchtende, und werden es wohl noch mehr tun, wenn sie hier Teil der Gesellschaft werden. Die Suche nach der spirituellen Dimension der westlichen Welt kann dabei helfen, die Sprachfähigkeit des Westens im Dialog der Kulturen zu verbessern.

Ein Labor des Dialogs

Mit diesen Überlegungen ist der Rahmen umrissen, dem sich die Herbstakademie Frankfurt vom 6. bis 8. November diesen Jahres widmen möchte. Das Projekt „Herbstakademie“ bietet seit nunmehr zehn Jahren ein inter-spirituelles Forum, auf dem sich Menschen verschiedener Richtungen in der Bemühung treffen, Aufklärung und Transzendenz zu verbinden.

Einer der besonders spannenden Gäste ist diesmal der im Islam verwurzelte Amir Nasr, der als fundamentalistischer Muslim aufwuchs, durch eine atheistische Phase des Zweifels ging und im Rahmen einer integralen Weltsicht die Möglichkeit fand, seinem Glauben, vernünftigem Denken und spiritueller Erfahrung gleichermaßen Raum in sich zu geben. Weitere Beispiele aus dem Programm: Sonja Student wird den tiefen humanistischen Wert darstellen, der sich in der Entwicklung der Kinderrechte zeigt; die Künstlerin Dorothea Walter arbeitet unter dem Motto „In Erwartung der Zärtlichkeit“ am Thema der Frauenrechte in Schwellenländern und zeigt eine Performance; Jost Schieren befasst sich mit einem der größten und gleichzeitig noch am meisten übersehenen Repräsentanten einer westlichen Spiritualität: es ist Goethe, der da, wo die Wissenschaft nur Materie sieht, die Natur- und Sinnesanschauung zu einer tieferen Verbindung von Welt und Seele weiterentwickelt. Weitere Beiträge beschäftigen sich mit dem Freiheitsverständnis der westlichen Kultur, mit der Rolle des Rechts und dem Thema Spiritualität in der Welt.

Wenn diesmal bei der Herbstakademie das Wort von der „westlichen Welt“ als Aufgabe ansteht, wird das nicht anders gehen, als dass die Zeitereignisse dabei mit hineinspielen. Politische Lösungsvorschläge sind dabei nicht unsere Aufgabe. Ich sehe diese drei Tage der Herbstakademie als einen Raum der tiefen Besinnung jenseits des Meinungstrubels, als ein Dialog-Labor, das mit inhaltlichen Impulsen, achtsamen Dialogen und Meditationen neue Perspektiven eröffnet. Ich freue mich auf fruchtbare Begegnungen.

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