Anlässlich der Ausstellungseröffnung von Corinna Krebber am 12. Februar 2015 in der Galerie „Das Bilderhaus“, Frankfurt am Main.
1.
Alles, was wir wissen, wissen wir dadurch, dass es zur Sprache kommt.
Bis etwas Sprache wird, lebt es im Dunkel.
Erst die Sprache macht aus etwas, das bisher nur ein Ahnen war, macht aus unserer Intuition oder Einsicht das Sagbare.
Indem etwas zur Sprache kommt, erfährt etwas bis dahin Ungesagtes eine Fassung, einen Rahmen, der das Gefasste besprechbar macht.
„Sprich es aus!“ – Das meint, etwas überhaupt erst zur Wirklichkeit werden zu lassen, und es gilt nicht nur für das laute Aussprechen gegenüber anderen, sondern auch schon dann, wenn wir etwas nur innerlich, uns selbst gegenüber, aussprechen.
In der Gefasstheit der Sprache gerinnt das bis dahin nur Gemeinte in eine bestimmte Form und nimmt Eindeutigkeit an.
Aber auch in der Eindeutigkeit bleibt das Gesagte vieldeutig.
Denn jedes gesprochene Wort ist damit der Deutung ausgesetzt, dem Verstehen ebenso wie dem Missverstehen.
2.
Alles Sprechen ist angelegt auf das Hören.
Den Zusammenhang von Sprechen und Hören nennen wir „Gespräch“.
Hören wir dazu Martin Heidegger:
„Das Hörenkönnen ist nicht erst eine Folge des Miteinandersprechens, sondern eher umgekehrt die Voraussetzung dafür. Allein auch das Hörenkönnen ist in sich schon wieder auf die Möglichkeit des Wortes ausgerichtet und braucht dieses. Redenkönnen und Hörenkönnen sind gleich ursprünglich. Wir sind ein Gespräch – und das will sagen: wir können voneinander hören…. Das Gespräch und seine Einheit trägt unser Dasein.”
(Heidegger, Hölderlin und das Wesen der Dichtung)
Gespräch-sein-können in diesem Sinne bedeut also: Bevor wir reden, haben wir schon verstanden.
Bei den kleinen Kindern, noch bevor sie sprechen, ist genau dies fast wie ein Wunder zu beobachten: wie sie schon alles verstehen, ohne selbst zu reden.
3.
Wenn wir also immer schon Hörende sind, um erst sprechen zu lernen, wie hat dann wohl der erste Mensch sprechen gelernt, als noch niemand da war, dem er hätte zuhören können, weil die Sprache ja erst erfunden werden sollte? Und wie sollte sich Sprache „erfinden“ lassen aus einem Zustand der völligen Sprachlosigkeit heraus? Einem Zustand also, in dem uns nicht nur die richtigen Worte gefehlt hätten (was wir sonst Sprachlosigkeit nennen), sondern Worte überhaupt?
Eine verbreitete Theorie erklärt die Entstehung der Sprache aus Konvention, also aus Übereinkunft. Ein etwas Schmunzeln erregendes Bild dazu ist die Vorstellung, wie unseren Vorfahren bei der Großwildjagd die Nützlichkeit des exakten Informationsaustausches durch Worte aufging. Eine lange Evolution der Zuordnung von Lautlichkeit und Bedeutung soll damals begonnen haben.
Aber noch einmal: Wie hätten damals Konventionen gebildet werden sollen, wie Einigungen über Bedeutung stattfinden, ohne schon dabei zu sprechen?
Wir kommen der Sprache beim Versuch, sie zu erklären, offenbar nicht hinterher.
Noch einmal Heidegger:
„Das, wovon wir sprechen, die Sprache, ist uns stets schon voraus. Wir sprechen ihr ständig nur nach. So hängen wir fortwährend hinter dem zurück, was wir zuvor uns eingeholt haben müssten, um davon zu sprechen. Demnach bleiben wir, von der Sprache sprechend, in ein immerfort unzureichendes Sprechen verstrickt.”
(Heidegger, Vom Wesen der Sprache)
Andererseits kann positiv festgehalten werden: Die Sprache ist offenbar eine vorgängige, nicht zu reduzierende Sphäre der Verbindung mit Bedeutung, die nicht aus Unverbundenem konstruierbar ist.
Ein letztes Mal Heidegger: „Nicht wir haben die Sprache, die Sprache hat uns.“
(Hölderlins Hymnen „Germanien“ und „Der Rhein“, GA 39)
4.
Vertauschen wir doch einmal probeweise die gängige Vorstellung, wonach Sprache zufällig und konventionalistisch entstanden sei, durch die Idee, dass die Sprache uns immer schon hatte und Sprache immer schon war.
Die Weisheit der Alten hat ja die Sprache – das Wort – überall nicht ans Ende der Entwicklung gesetzt, nicht erst dahin, wo wir Menschen über die Welt zu sprechen begannen, sondern an den Anfang:
Am Anfang war das Wort, heißt es bei Johannes.
Auch die mystische Überlieferung im Judentum stellt an den Anfang der Welt das Wort, die weltschaffende Sprache des Göttlichen.
Gershom Scholem, der große Wiederentdecker der Kaballah und Begründer ihrer wissenschaftlichen Erforschung, schrieb dazu:
„Die Kabbalisten aller Schulen und Richtungen sind sich darüber einig, in der Sprache nicht nur ein unzulängliches Mittel der Verständigung von Mensch zu Mensch zu sehen (…) Sprache in ihrem reinsten Wesen (…) hängt mit dem tiefsten geistigen Wesen der Welt zusammen, hat, mit anderen Worten, einen mystischen Wert. Sprache erreicht Gott, weil sie von Gott ausgegangen ist. In der Sprache der Menschen … spiegelt sich die schöpferische Sprache Gottes wider. … Alles Lebendige besteht letzten Endes durch die Sprache Gottes…“
(Die jüdische Mystik in ihren Hauptströmungen)
5.
Sprache, das Wort, wäre also identisch mit dem ursprünglichen Wesen allen Seins.
Was aber, wenn dies nicht nur ein romantischer Zirkelschluss wäre, sondern wenn dem, was unsere Sprachwelt ist, wirklich und ursprünglich Welt-Sprache zugrunde läge? Wenn Sprache eben nicht „nur“ menschlich wäre, sondern wenn es eine Welt-Sprache gäbe – an der wir Menschen Anteil haben, indem wir immer schon in sie eingebettet sind? Die wir als Menschheit einst erlernt hätten wie die Kinder das Sprechen lernen – als Hörende?
Nicht diesen Gedanken, aber einen Verständnis-Baustein dazu liefert ein Jugendfreund Scholems, der ihm herzlich verbundene Walter Benjamin. Benjamin hat sie an den Anfang seiner eigenen Überlegungen gestellt die das Thema tragen: „Über die Sprache überhaupt und über die Sprache des Menschen” (1916). Schon der Titel überrascht: Es gibt für Benjamin „eine Sprache überhaupt”, von der die menschliche Sprache gleichsam nur eine Unterform darstellen soll. Also: Nicht die menschliche Sprachlichkeit wird in die Welt projiziert (und dann erschiene uns die Welt nur als sprachlich), sondern die menschliche Sprache stellt gleichsam eine Kontraktion einer „Sprache überhaupt“, einer universellen Sprache der Welt dar. Und was wäre diese „Welt-Sprache“?
Dazu Benjamin: „Jede Mitteilung geistiger Inhalte ist Sprache, wobei die Mitteilung durch das Wort nur ein besonderer Fall, der der menschlichen ist.”
Folglich gibt es für ihn „kein Geschehen oder Ding weder in der belebten noch in der unbelebten Natur, das nicht in gewisser Weise an der Sprache teilhätte, denn es ist jedem wesentlich, seinen Inhalt mitzuteilen”. Das Prinzip der Welt besteht also darin, Ausdruck zu sein, Ausdruck von Bedeutung, und jede Äußerung von Bedeutung ist Sprache. Für Benjamin gibt es deshalb – nicht nur im übertragenen Sinne – eine Sprache der Dinge, eine Sprache der Musik, eine Sprache der Natur, eine Sprache des Universums.
6.
Benjamin lässt hier also die alte mystische Idee einer die Welt durchziehenden Sprache wieder anklingen, aber gleichsam im Gewand einer Erkenntnistheorie.
Warum? Vielleicht weniger weil er selbst Mystik vertreten wollte als vielmehr weil er gesehen hat, dass wir gar nicht anders können denn die Welt als Sprache zu hören. Wir müssen das aber nicht als Einschränkung auffassen, nicht als Festlegung auf unser subjektives Wesen als Menschen, sondern können es umgekehrt als Chance begreifen, unsere eigene Sprachhaftigkeit als Medium tiefer Weltverbundenheit zu nutzen.
Wir können etwas vom Sein der Dinge in ihrem Aussprechen fassen und halten, weil die Dinge selbst manifestiertes Wort sind.
Immer wenn wir ein Wort sprechen, sprechen wir mit dem Sein.
Sicher: wer Gebrauchsanweisungen für Staubsauger verfasst oder wer seine Worte in politischer Ideologie verschleißt, erfährt von dieser Seins-Kraft der Sprache nur wenig oder nichts; wer wie Hölderlin die Eichbäume besingen kann oder wie Trakl eine Abendstimmung heraufbeschwört, weiß schon sehr viel mehr davon zu sagen.
Und selbstverständlich spricht auch eine Ausstellung wie die heute eröffnete davon, die auf so schöne Weise mit dem Zusammenhang von Wort und Sein umgeht.
Ich danke für Ihr Hören.