Ganz in der Gegenwart – Eine Begegnung mit Eckart Tolle

Er gilt als einer der wichtigsten spirituellen Lehrer unserer Zeit, sein Buch über „Die Kraft der Gegenwart“ ist ein Geheimtipp und sein Publikum kommt aus allen gesellschaftlichen Schichten. Was macht Eckhart Tolle so anziehend? Eindrücke von einem, der den Augenblick liebt. 

Die Klimaanlage des Veranstaltungszentrums von Fürstenfeldbruck bei München ist das einzige, was man in der minutenlangen Stille vor dem Auftritt hört. Kein Laut, keine Hand rührt sich, als die Hauptfigur dieses Nachmittags endlich erscheint. Ein unauffälliger Mann mittleren Alters betritt die Bühne, nähert sich mit hängenden Schultern, eher schlürfend als gehend, einem Tisch und setzt sich nach einer kurzen Verbeugung auf einen Stuhl. Das Auffälligste an diesem Menschen, denke ich spontan, ist seine Unauffälligkeit. Mit seiner Franz-Müntefering-Frisur und seinem grauen Pullover, das Hemd bis zum Hals zugeknöpft, könnte er mir auch neulich am Postschalter begegnet sein. Den aber, den das Publikum hier gespannt erwartet hat, halten viele der hier Versammelten für nichts Geringeres als einen Erleuchteten.
Der aber sitzt erst einmal und schweigt. Er schweigt minutenlang, dabei aufmerksam und freundlich ins Publikum blickend, als wolle er zunächst jedem der rund tausend Menschen persönlich in die Augen schauen. Die merkwürdigste Vortrags-Eröffnung, die ich bisher erlebt habe! Mehrfach setzt er an, bewegt die Lippen, zögert noch einmal, dann spricht er, dabei jedes einzelne Wort bewusst setzend: „Es ist möglich zu sprechen, ohne dabei den Kontakt mit der Stille zu verlieren.“ Das sitzt! Drei Stunden lang, immer wieder von kurzen Besinnungsaugenblicken unterbrochen, füllt nun die tiefe, warme Stimme von Eckart Tolle den Raum.

Die Illusion der Zeit
Das erste Mal hatte ich von Eckart Tolle auf der Feier einer Handwerkerfamilie gehört. Als eine zufällig anwesende Feng-Shui-Beraterin von einem Lehrer sprach, der auf jede Frage nur mit dem Hinweis auf das „Jetzt“ antworte, hielt ich das zunächst für eine der vielen Marotten der neueren Esoterik-Szene. Nachdem mir jedoch nach einem Treffen an der Alanus-Hochschule ein alter Bekannter, dem ich von meinem Interesse für zeitgenössische Spiritualität erzählt hatte, die Website von Eckart Tolle zumailte, beschloss ich, der Sache nachzugehen. Als erstes besorgte ich mir sein Buch Jetzt. Die Kraft der Gegenwart, das in englischer Sprache bereits 1997 erschienen war. Das Buch hatte sich über viele Wochen in den Bestsellerlisten der USA gehalten und erscheint auch in der deutsche Übersetzung mittlerweile in der achten Auflage – eines der erfolgreichsten spirituellen Bücher unserer Zeit.
Schlicht und bescheiden wie das persönliche Auftreten Eckart Tolles kommt mir auch seine Sprache entgegen: so einfach, dass es jeder verstehen kann, der Zeitung liest, ein warmherziger, liebevoller Ton, der von Bewusstseinsveränderung erzählt und seine Leser bei den vielfältigen Sorgen und Nöten abholt: Erfahrungen von Schmerz, Leid, Scheitern von Partnerschaften und ganzen Lebensentwürfen. Dennoch ist Tolle weit davon entfernt, simples Glücksverlangen zu befriedigen. Der Kern seiner Botschaft ist das Durchschauen der „Illusion der Zeit“ und die Einsicht in die Bedeutung der Gegenwart als das „wahre Sein“. Seine Grundanalyse wird jeder bestätigen, der über ein Körnchen Selbsterkenntnis verfügt: den überwiegenden Teil unseres bewussten Lebens verbringen wir damit, uns Vorstellungen über uns selbst zu machen, ein Selbstbild zu kreieren, dass sich meist mit Problemen aus der Vergangenheit auseinandersetzt. „Wir lieben diese Persönlichkeitsgeschichten“, sagt Eckart Tolle, „besonders, wenn sie ‚problematisch‘ sind, weil ich darin die Hauptrolle spiele. Das ist sehr interessant“, so der Vortragende mit zwinkernden Augen, das Publikum fühlt sich „überführt“ und lacht – wie oft an diesem Nachmittag, denn Tolle hat viel feinen Humor. Tatsächlich hängen wir in unseren persönlichen Geschichten oft genug fest, verbeißen uns in unseren Opfer-Rollen und trösten uns mit Phantasien der Zukunft oder Vorstellungen darüber, wie und wann es besser werden könnte als es jetzt ist. Und selbst wenn es uns gut geht, dann immer nur für kurze Zeit: denn bald schon genügt uns nicht mehr, was wir haben oder was wir sind und wir brauchen neue Vorstellungen, neue Gedanken, neue Ziele. Aber, so führt Tolle aus, auf diese Weise werden wir nie die ersehnte Erfüllung, nie Freiheit erlangen können. Denn das Verhaftet-Sein an Vergangenheit und Zukunft ist gerade die sicherste Strategie, genau dem auszuweichen, was als wahres Leben, als wahre Fülle des Seins, jederzeit „da ist“: und zwar in diesem Moment, in der Gegenwart, in der Stille des „Jetzt“.
Das ist alles irgendwie altbekannt und doch neu für mich. Denn als „westliche“ Menschen finden wir uns nur zu gern in einer Gestalt wie Goethes Faust wieder, der bekanntermaßen als Ur-Typus des „strebenden Menschen“ geschätzt wird. Die Begegnung mit Tolle veranlasst mich, dieses „immer strebende Bemühen“, diese so beliebte Reden von „Zukunftsperspektiven“ zu hinterfragen. Faust setzte seine ganze Identität auf das Versprechen, zum Augenblicke nie zu sagen: „Verweile doch, du bist so schön“. Eckart Tolle scheint nun das glatte Gegenteil dieser Haltung zu sein, ein „Anti-Faust“, dem das ganze, meist selbstzerstörerische „Streben“ des Menschen nur noch komisch vorkommt. Ja, er kichert regelrecht während seines Vortrags als er ausmalt, wie verrückt dieses ewige Rennen zur Zukunft ihm erscheint. Erfüllung bringt nur der Augenblick. Allerdings nicht irgendein besonders „schöner“ oder besonders „glücklicher“ Augenblick, sondern jener eine und einzige der Gegenwärtigkeit schlechthin. Tolles Botschaft: sich auf das wahre „Ich bin“ zu konzentrieren, das niemals in der „Zukunft“ zu erreichen sein wird – denn die Zukunft ist immer nur eine Vorstellung – auch nicht in einem „besseren“ Zustand, den ich mir ausmale, sondern in der ewigen Gegenwärtigkeit des Jetzt. „Aber“, so warnt er seine Zuhörer, „fangen Sie jetzt nur nicht an, an die Gegenwart zu glauben!“ Denn auch das wäre nur eine Vorstellung, nur ein Gedanke.

Tiefe Lebenswende
All das erinnert an Weisheiten des Zen. Aber Eckart Tolle ist nicht von Begegnungen mit östlichen Lehrern inspiriert und sein Wissen stammt nicht aus Büchern. Der Ursprung seiner Lehre liegt vielmehr in einem tiefen biographischen Wandlungserlebnis. Tolle lebte bis zu seinem 13. Lebensjahr in Deutschland und ging dann nach England. Als äußerlich erfolgreicher Dozent an der Cambridge University, so Tolle in seinem Buch, litt er unter Depressionen und trug sich mit Suizidgedanken. „Eines Nachts, nicht lange nach meinem neunundzwanzigsten Geburtstag, erwachte ich in den frühen Morgenstunden mit einem Gefühl absoluten Grauens.“ Die Quintessenz seiner Lebenserfahrung lautete: „Ich kann mit mir selbst nicht mehr weiterleben.“ Dieser „sonderbare Gedanke“, dass es offenbar in ihm zwei Formen des Ich gab, von denen die eine beurteilen konnte, dass sie mit der anderen nicht mehr weiterleben konnte, wurde sein Schlüsselerlebnis: Etwas also, das bei anderen eben nur ein „sonderbarer Gedanke“ geblieben wäre, führte bei Eckart Tolle zu einem Quantensprung, der ihm mit einem Schlag die Existenz eines „wahren Selbst“ bewusst machte, das mehr ist als das persönliche, angsterfüllte Ego: „Wie aus dem Inneren meiner Brust hörte ich die Worte: ‚Wehre dich nicht!‘ Ich fühlte, wie ich in eine Leere hineingesaugt wurde… Plötzlich war keine Angst mehr da und ich ließ mich in diese Leere hineinfallen.“ Fünf Monate eines entrückten Zustands voller Friede und Glück folgten, der in seiner Intensität dann etwas nachließ. Aber: „Was zurückblieb, war meine wahre Natur – das stets gegenwärtige Ich bin: reines Bewusstsein, bevor es sich mit Form identifiziert“, so erzählt Tolle. Fast zwei Jahre verbrachte er, wie er sagt, „auf Parkbänken sitzend in einem Zustand intensivster Freude“, zog sich vollständig aus dem äußeren Leben zurück. Durch Begegnungen mit suchenden Menschen entschloss er sich, seine Erfahrung weiterzugeben und schließlich auch sein in Frage- und Antwort-Form gehaltenes Buch zu schreiben.

Anthroposophische Perspektive
Tolles Zurückweisung alles Gedanklichen als Hemmnis wahrer Gegenwärtigkeit bereitet mir zunächst Mühe, weil ich Steiners Ansatz einer Kontaktaufnahme zum wirklichen Geist über das lebendige Denken schätze. Dann aber merke ich, dass Tolle eigentlich mit Gedanken „Vorstellungen“ meint, die ja tatsächlich nur temporäre und persönliche Bedeutung haben. Besonders deutlich wird das, wenn Tolle darauf hinweist, dass Vorstellungen und Worte nie gegenwärtig sein können, aber als „Hinweisschilder“ zum Erleben von Gegenwärtigkeit dienen können. Insofern er als Kern unseres wahren Wesens die leere Aufmerksamkeit und reines Bewusstsein charakterisiert, gibt es hier zweifellos Brücken zu entsprechenden Darstellungen Steiners oder auch anderer anthroposophischer Autoren wie Witzenmann oder Kühlewind, die sich intensiv mit der Natur des Bewusstseins befasst haben, auch wenn gerade das Charakteristische der Anthroposophie darin liegt, dass wir unser geistiges Wesen nicht nur in der reinen Aufmerksamkeit, sondern auch in der erkennenden Begegnung mit dem geistigen Wesen der Dinge in der Welt finden können.
Besonders spannend werden die Berührungspunkte, wenn Tolle über Christus spricht: „Im Ich liegt die größte Illusion wie auch die tiefste Wahrheit, wie Christus sagt: Bevor Abraham war, bin Ich“, führt er in seinem Vortrag aus und in seinem Buch heißt es dazu: „Christus ist deine Gott-Essenz oder das Selbst, wie es manchmal im Osten genannt wird. Der einzige Unterschied zwischen Christus und Gegenwärtigkeit ist der, dass Christus sich auf deine innewohnende Göttlichkeit bezieht, egal ob du ihrer bewusst bis oder nicht, wohingegen Gegenwärtigkeit deine erwachte Göttlichkeit oder Gott-Essenz darstellt … Die ‚zweite Ankunft‘ von Christus bedeutet eine Transformation des menschlichen Bewusstseins, einen Wechsel von der Zeit zur Gegenwärtigkeit, vom Denken zum reinen Bewusstsein“.

Ausblick
Beim Lesen und Hören seiner Worte frage ich mich immer wieder, was die Menschen an Eckart Tolle so fasziniert: er ist weder äußerlich charismatisch, er ist kein herausragend guter Redner, und seine Botschaft ist, auf das Inhaltliche reduziert, eigentlich nichts Neues. Wenn er über die katastrophale Zeitlage räsoniert, wirkt das sogar ein wenig eindimensional, so, als würde er „die Welt“ doch nicht wirklich kennen. Er macht nicht den Eindruck wie jemand, der die Welt wirklich umformen könnte oder wollte – da würde ein kleines bisschen „Faust“ vielleicht doch nicht schaden, stichelt es in mir. Auch scheint er mir, was die Darstellung von Bewusstseinsphänomenen angeht, oft nicht so präzise zu sein, wie ich es aus anthroposophischen Darstellungen kenne und schätze. Und doch habe ich von seiner Lehre unmittelbar „profitiert“, hat mich seine Art zu schreiben und zu lehren angespornt, mehr auf den Augenblick zu achten und mir in Erinnerung gerufen, dass es für das innere Leben nicht darum geht, verkrampft etwas „haben“ zu wollen sondern offen zu werden für das, was als Totalität immer schon da ist. Eckart Tolle hat ein zwar punktuelles, aber doch zentrales Element der spirituellen Entwicklung aufgegriffen und konsequent zu seinem Lebensthema verdichtet. Die Art, wie er das macht, ist authentisch, und gerade dann, wenn er konkret auf kritische Rückfragen eingeht merkt man, dass er nicht aus einem Wissen, sondern aus dem Erlebnis der Gegenwärtigkeit antwortet. Er schreibt und spricht so, dass er unmittelbar das Bewusstsein für diese Gegenwärtigkeit freilegt und bündelt.
So etwa auch in seinem Vortrag, als er sein Publikum mit den Worten in die Pause entlässt: „Wir sehen uns gleich wieder“ – um nach kurzem Innehalten zu ergänzen: „Aber nicht eigentlich ‚gleich‘, sondern es ist ja derselbe, gegenwärtige Augenblick, in dem wir uns wieder begegnen.“ In diesem Sinne eines Bewusstseins-Weckers, der auf seine einfache und doch elementare Art große Menschenkreise erreicht, halte ich Eckart Tolle für eine große Bereicherung unserer Zeit. Er ist ein ehrlicher Helfer, der nicht mehr scheinen will als sein. Vielleicht sollte man ihn gerade deshalb auch nicht zu mehr machen, als dieser bescheidene Mensch offensichtlich selbst sein will. Er ist sich selbst genug, ganz im Hier und Jetzt.

Erschienen in Info3 – Anthroposophie im Dialog, Ausgabe Juli/August 2004 und auf der deutschen Website von Eckart Tolle.