„Der Andere ist immer jemand, der absolut ist“

Jens Heisterkamp und Axel Föller-Mancini im Gespräch mit Klaus Dörner

Sein Arbeitszimmer mit den einfachen Regalen nach Ikea-Art und Unmengen von Papier erinnert auf Anhieb an eine Studentenbude aus den 70er Jahren. Pfeifenrauch liegt in der Luft, den einzigen Schmuck an der Wand bildet ein in die Jahre gekommenes Poster der Folk-Gruppe The Dubliners. In einer Altbauwohnung im Hamburger Stadtteil Eppendorf begrüßt uns der Hausherr gewohnt hemdsärmelig und schreibt noch schnell einen Brief auf seiner waschechten, mechanischen Schreibmaschine zu Ende. Das Klappern des etwas aus der Mode gekommenen Schreibwerkzeugs wirkt typisch für Klaus Dörner, der sich am wohlsten fühlt, wenn er gegen den Mainstream angehen kann und es immer auch ein bisschen genießt, wenn das Publikum seine kritischen Zwischenrufe erst beim zweiten Nachdenken versteht.

Klaus Dörner hat sich, weit über seine langjährige Tätigkeit als Leiter einer psychiatrischen Klinik in Gütersloh hinaus, schon früh einen Namen als unbequemer Geist im Gesundheitswesen gemacht, hat sich mit zahlreichen Veröffentlichungen und als Mitwirkender in Initiativen und Kommissionen immer wieder für eine Medizin „vom Letzten, vom Schwächsten her“ eingesetzt. Besonders hervorzuheben sind seine Beiträge zur Aufarbeitung der Medizin in der NS-Zeit, sein Einsatz für die Akzeptanz von psychisch Kranken („Irren ist menschlich“), sein Engagement als Euthanasie-Kritiker und sein scharfer Blick auf die Lage des Gesundheitssystems. Dörner hatte lange Jahre einen Lehrstuhl an der Universität Witten Herdecke inne und war eng mit Wilhelm Ernst Barkhoff befreundet: „Das war eine intensive Freundschaft“, sagt Dörner, und er ergänzt, dass er dem Gründer der GLSGemeinschaftsbank in Bochum viele Anregungen „über das Zusammenbringen des Sozialen mit dem Finanziellen“ verdanke. Vor kurzem hatte Dörner sich übrigens auch mit der anthroposophischen Heilpädagogik und Sozialtherapie eine spannende Debatte um den Sinn und Unsinn von Heimunterbringung geliefert. Seit 1996 lebt Dörner mit seiner zweiten Frau wieder in Hamburg. Hier trafen ihn Jens Heisterkamp und Axel Föller-Mancini zu einem Gespräch über das Ende des Individualismus, den französisch-jüdischen Philosophen Emmanuel Lévinas und Enkeltochter Dorothea.

Interview 

Herr Dörner, in Ihren Büchern und in Vorträgen betonen Sie stets die Notwendigkeit, sich bei therapeutischen Ansätzen – und das gilt wohl für das soziale Leben ebenso – nicht allein dem Prinzip der Individualität und der Selbstbestimmung zu verschreiben; das macht uns hellhörig, weil es sich mit einem immer wiederkehrenden Motiv unserer Zeitschrift trifft, nämlich der Frage, ob der Individualismus in der westlichen Welt seinen Höhepunkt schon überschritten hat und welche Perspektiven es für eine Zivilisation gibt, die nicht mehr dem Ego die höchste Priorität zuerkennt. Ist der Höhepunkt des überzogenen Individualismus Ihrer Ansicht nach bereits überschritten?

Gute Frage. Die gesamte Neuzeit, nehmen wir Luther, dann die ganze Epoche der Moderne seit etwa 1800, ist ja in Wellenbewegungen immer wieder davon bestimmt gewesen, dass die Menschen sich von bestehenden Bindungen freigemacht haben, emanzipiert haben, aus der Hand von Religion und Kirche, von Aristokratie und Herrschaft, auch von Familie, Sippe und Kommune, auch von nachbarschaftlichen Bindungen, und jeder Schritt zu mehr Individualisierung war als ein Freiheitsgewinn erlebt und genossen worden. Das ist ein Prozess, von dem man sagen kann, dass er wahrscheinlich heute einigermaßen zu Ende ist. Wir haben da etwa das Phänomen der Single-Haushalte mit einem Anteil von über 40 Prozent in einer Stadt wie Frankfurt, wo man ja sagen kann: mehr atomisieren kann sich die Menschheit nicht mehr. Und da finde ich es spannend zu sehen in der Zeit, in der wir jetzt leben, dass da eine Gegenbewegung ansetzt, die nicht immer nur auf Selbstbestimmung aus ist, sondern wieder mehr nach den Lebensbeziehungen fragt.

Haben Sie da konkrete Anhaltspunkte und Phänomene im Blick?

Es gibt doch eine Hülle und Fülle an Indizien dafür! Lassen Sie mich aber zuerst noch etwas mehr Grundsätzliches vorschieben, bevor ich auf Ihre Frage zurückkomme. Der Philosoph und Mediziner Victor von Weizsäcker hat schon in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts, von Martin Buber ausgehend, den Individualismus erweitert und einen trialogischen Ansatz entwickelt, bei dem die Beziehungen im Mittelpunkt standen. Er hat in den Bereich des Therapeutischen die Figur des Dritten eingeführt. Auf etwas Ähnliches war ich bei meiner Tätigkeit in der psychiatrischen Tagesklinik in Hamburg gekommen als mir klar wurde: es ist geradezu absurd zu meinen, man könne mit einem Patienten als einem Individuum allein, so als würde er isoliert für sich allein existieren, etwas Vernünftiges anfangen. Diese Einsicht war damals die Geburtsstunde der Angehörigengruppen, die wir erfunden haben: und in der Zusammenarbeit mit den Angehörigen ist es mir dann wie Schuppen von den Augen gefallen, wie einseitig man in der Regel nur aus der Perspektive des Patienten – die schon auch wichtig ist – schaut, aber die Angehörigen und andere Dritte in ihrer Eigenart nicht berücksichtigt. Wir haben doch gelernt: der Patient steht im Mittelpunkt, aber das ist eine Selbsttäuschung.

Man muss – getrennt davon – auch die Perspektive derer achten, mit denen er am intensivsten zusammenlebt. Und die für eine Therapie relevanten Wahrheiten kondensieren sich dann meist an den Schnittstellen dieser beiden Perspektiven.

Wobei wir schon fast bei Lévinas sind.

Dessen Werk lernte ich dann erst relativ spät, vor etwa zehn Jahren, kennen, und er hat diese Denkart in einer Weise radikalisiert, dass es einem schon den Atem verschlägt. Lévinas hat, man kann schon sagen: in menschheitlichen Dimensionen unserer gewohnten Weise, vom Individuum her zu denken, die aus der griechischen Antike stammt und sich in Humanismus und Aufklärung fortgesetzt hat, die andere, die biblische Sichtweise entgegengestellt, wo nicht das Ego das Aktionszentrum ist, sondern der Andere, also der andere Mensch oder auch Gott als der Andere, dem ich mich auszusetzen und in dessen Dienst ich mich zu stellen habe. Das versuche ich seither mühselig zu lernen und sehe, dass ich immer noch große Mühe habe, diesen im Westen ganz ungewohnten Ansatz einigermaßen in die Alltagssprache zu bekommen.

Die Erweiterung der dialogischen Situation, wo zwei sind, die sich angesichts eines Dritten in die Verantwortung setzen lassen – ist das nicht auch ein christliches Motiv?

Das Christentum ist ja nur eine kleine Sekte des eigentlich relevanten Judentums – das habe ich jedenfalls neulich beim Vortrag eines Alt-Orientalen erfahren und fand es eigentlich ganz erhellend, das einmal so zu sehen; ich rede lieber vom biblischen Denken und muss sagen, gerade nach einem intensiven Lesen der Bibel in den letzten Jahren: das Neue Testament trägt inhaltlich eigentlich zum biblischen Denken nicht so furchtbar viel Neues bei. In der biblischen Tradition ist das Sich-dem-Anderen-Aussetzen jedenfalls der Kern. Und wie bildet sich das nun in der Struktur menschlicher Beziehungen ab? Da ist es spannend zu sehen, wie beim Blick auf die Bedürfnisse des Menschen immer ganz stark das Bedürfnis nach Unabhängigkeit und Selbstbestimmung betont wird, und das dominiert dann auch die Therapieziele. Dann wird einem aber auch zweierlei deutlich: einmal, dass es keine Selbstbestimmung geben kann, wenn nicht zuvor auch Fremdbestimmungen gegeben sind, denn wovon sollte man sich sonst emanzipieren?

Und das andere: Menschen können sich nicht nur in der Bewegung von Bindungen weg verwirklichen, sondern auch im Leben von Bindungen. Natürlich muss man bei der einen oder anderen Bindung auch fragen, ob man sich vielleicht lieber von ihr befreien sollte, aber Bindungen haben auch einen Wert in sich selber.

Haben Sie ein Beispiel dafür?

Wenn auf unserer Station beispielsweise ein Patient entlassen wurde, dann wurde immer darauf geachtet: ist er so weit wieder selbständig, dass er den Stürmen des Lebens gewachsen ist? Aber es wurde selten gefragt: hat er auch genug Bedeutung für andere? Muss man da noch etwas dazu tun? Denn wenn jemand zu wenig Bedeutung für andere hat, dann nützt ihm seine Selbstbestimmung überhaupt nichts, sondern er geht ein wie eine Primel, er wird depressiv, und wenn es niemand anderen um ihn herum gibt, für den er Bedeutung hat, wird er suizidal. Selbstbestimmung ist in unserer Gesellschaft und in den Medien immer ein Thema, aber über dieses zweite: Bedeutung für andere zu haben, spricht man praktisch nicht, obwohl es für das konkrete Leben eher noch wichtiger ist. Und jetzt komme ich endlich auf Ihre Frage nach den Anzeichen eines Wandels zurück: es hat da eine Art Quantensprung gegeben seit etwa 1980, also genau seit jener Phase, seit wir im Westen kein nennenswert großes ökonomisches Wachstum mehr haben, mit dem wir bis dahin gewohnt waren, auch unsere immer größer werdenden Ansprüche im Gesundheitswesen zu finanzieren. Und man muss sich dem Gedanken stellen, dass wir ökonomisch im Wesentlichen ausgewachsen sind.

Die Bedürfnisse sind gestillt …

.. aber kein Mensch ist bereit das einzugestehen, dass die Bedürfnisse gestillt sind und dass da kein vernünftiger Zuwachs mehr denkbar ist. Gleichzeitig haben wir vermehrt Alterspflegebedürftige und chronisch kranke Menschen, und zwar als segensreiche Folge des medizinischen Fortschritts, den wir ja begrüßen. Und seit dieser Zeit hat sich nun auch signifikant die Zahl von freiwilligen Helfern im sozialen und gesundheitlichen Bereich gesteigert, es wächst die Zahl der Nachbarschaftsvereine; mit dem Phänomen AIDS hat sich gleichzeitig eine Kultur des Pflegens und Sterben-Könnens in den eigenen vier Wänden realisiert, und zwar in einer Größenordung, die so gar nicht mehr möglich zu sein schien. Es wurden ganz neue Modelle der Kooperation von privatem und institutionellem Einsatz geschaffen. Ich denke auch an die Hospiz-Bewegung mit derzeit rund 80.000 freiwilligen Helfern in Deutschland. Das muss man sich einmal vorstellen: da reißen sich Zehntausendegeradezu darum, sich mit einem Bereich von Tod und Sterben zu konfrontieren, von dem es in den Medien doch immer heißt, er würde tabuisiert.

Und dann gibt es viele, viele Beispiele eines generationenübergreifenden, gemeinschaftlichen Wohnens, wo sich Menschen zusammentun und sich auch gegenseitigen Beistand versprechen, dann gibt es die ambulanten Dementen-Wohngemeinschaften. Das Misstrauen gegen die Institutionen gab es ja schon länger. Neu ist jetzt die Überlegung: möglicherweise haben wir den Gesamtbedarf an Hilfe, den es gesellschaftlich gibt, zu großzügig an die professionellen Institutionen abgegeben und jetzt merken wir: das tut uns gar nicht gut, denn wir wissen nichts Vernünftiges mit unserer vielen freien Zeit anzufangen, wir nehmen Schaden an unserer eigenen Gesundheit, wenn wir nicht genügend Bedeutung für andere haben. Das holen wir uns ein Stück weit zurück – und lösen damit gleichzeitig das Finanzierungsproblem im Gesundheitswesen, dessen Ursache eine Über-Professionalisierung ist. Das alles erst seit der Kostenkrise etwa seit 1980, seit die politisch Verantwortlichen die falsche Problemlösung der Vermarktung des Sozialen und des Helfens ausprobierten.

Umfragen zufolge geben 76 Prozent der freiwilligen Helfer als Motiv an, mitgestalten und Verantwortung tragen zu wollen …

… wobei diese Bürger den Verantwortungsbegriff endlich einmal korrekt verwenden: im Sinne der Übernahme von Verantwortung für andere durch die Gabe von Zeit, während dieser Begriff in der offiziellen Politik immer missbräuchlich verwendet wird, indem von „Eigenverantwortung“ die Rede ist …

… und damit ist dann eigentlich gemeint: Selbst-Absicherung …

 … genau, es geht da nicht um das Tun, sondern nur ums Bezahlen. Dass wir uns diesen sträflichen Sprachmissbrauch gefallen lassen!

Wie könnte man das ehrenamtliche Engagement auch von Seiten der Institutionen her noch weiter unterstützen?

 Zuerst einmal vermeide ich den Begriff des „Ehrenamtes“, so schön das als Wort auch ist, aber es ist missbraucht und entwertet, als Randphänomen, das sich die Institutionen gern als Alibi an den Hut stecken. Die zugespitzte Technisierung und Spezialisierung wird weiterhin laufen, aber umgekehrt rührt sich – wie gesagt – allmählich eine Gegenbewegung: Wir entdecken wieder neben dem Raum des Privaten und neben dem des Öffentlichen den nachbarschaftlichen Sozialraum, der geschaffen ist für die Bereitschaft eines über-familiären, aber doch begrenzbaren und überschaubaren Helfens.

Der Zeitraum, den Sie jetzt für diese Veränderungen anvisieren, ist ja auch der Zeitraum, in dem im deutschsprachigen Raum der Ansatz von Lévinas größere Beachtung gefunden hat. Und das ging ja einher mit einer Wucht von konkreten Phänomenen im medizinischen Bereich, die zeigten, dass die herkömmliche, vom Subjekt ausgehende Ethik nicht mehr griff: Angesichts von Demenz-Kranken, auch bei der Hirntod-Problematik, bei Langzeit-Komatösen gelang es nicht mehr, den Würde-Begriff von einem Verständnis des Menschen abzuleiten, das die Fähigkeit der Selbstbestimmung oder der Interessensvertretung voraussetzt. Da steht die gewohnte Ethik hilflos da – aber genau da setzt auch Lévinas mit seiner Idee der Ansprache durch den Anderen an. Nun haben Sie verschiedentlich durchblicken lassen, dass es da für Sie persönlich ein ganz besonderes persönliches Beispiel gab, in Gestalt ihrer Enkeltochter, die als Neugeborenes infolge einer Hirninfektion ins Koma fiel. Mögen Sie darüber etwas erzählen?

Vierzehn Tage nach der Geburt unserer Enkeltochter Dorothea, es war Winter, bekamen wir den Anruf, dass sie nach einer Infektion des Gehirns auf der Intensivstation liegt. Ich fuhr gleich hin, es war die Nacht, wo es um Leben und Tod ging. Die Eltern durften zum Kind, ich als Opa musste durch eine Glasscheibe zuschauen. Irgendwie kam es aber so, dass Dorothea so lag, dass sie nicht ihren Eltern, sondern mir durch das Glasfenster hindurch zugewandt war. Es war uns klar, dass sie, wenn überhaupt, dann als schwer geschädigtes Wesen weiterleben würde. Es wurde dann zwei, drei Uhr in der Nacht, sie war noch in der Lage, wach zu schauen, und sie schaute mich an. Und da waren sie, die sprechenden Augen aus dem nackten, sprechenden Antlitz des Menschen, von denen Levinas redet, der Blick, den mir Dorothea geschenkt hat – und mit dem sie mich auch in die Verantwortung gerufen hat: jetzt kein Wenn und Aber, du stehst in meinem Dienst, egal, was aus mir wird. – Mein Schwiegersohn hadert übrigens bis heute mit mir, weil sie mir diesen Blick geschenkt hat und ihm nicht. – Dorothea hatte in der Folge oft Anfälle, es gab Lungenentzündungen, sie musste immer wieder künstlich ernährt werden. Sie hat insgesamt sechseinhalb Jahre gelebt, wobei sämtliche Experten ihr höchstens zwei bis drei Jahre gegeben hatten. Das war für uns insofern hilfreich, als wir uns nie auf die Fiktion stützen mussten: es lohnt sich nur, wenn Besserung in Aussicht steht.

Genau das war ja in einem sehr populär gewordenen Fall aus jüngster Zeit das Entscheidende: weil keine Aussicht auf Besserung mehr bestand, musste die amerikanische Wachkoma-Patientin Terry Schiavo sterben …

… wobei Fachleute wie der Koma-Experte Andreas Zieger überzeugt sind, dass Frau Schiavo nie eine vollständige Koma-Patientin war, sondern dass sie viele wache Äußerungen und Reaktionsmöglichkeiten zeigte. Aber diesen Denkfehler findet man auch bei vielen durchaus engagierten Medizinern und Ethikern nach dem Motto: nur wenn es noch besser wird, akzeptiere ich dich als Menschen, der leben möchte. Dorothea hat uns davor bewahrt. Wir waren aber auch immer darauf bedacht zu fragen: was drückt sie uns aus? Denn wir wollten sie auch nicht unseretwillen länger hier behalten als sie es vielleicht selbst wollte. Gibt sie vielleicht selbst Signale von sich, dass sie nicht mehr leben will? Dann hätten wir dem auch Rechnung tragen müssen.

Anhand welcher Signale konnte man denn eine solche Kommunikation mit einem nichtsprechenden, schwerstbehinderten Säugling führen?

Bei den Eltern und auch bei meiner Frau, die häufiger und intensiver als ich mit Dorothea zusammen waren, haben sich gewisse Kommunikationsmöglichkeiten im Laufe der Begegnungen stärker herausgebildet: meine Frau entdeckte insbesondere drei Körperzonen, die Mundgegend, mit denen Dorothea etwas ausdrückte, die Finger der linken Hand und eine Stelle zwischen den Schulterblättern.

Sprache ist also mehr als verbales Sprechen?

Ein Mensch kommuniziert, solange er lebt, und selbst wenn das Gehirn nicht mehr seinen Dienst tut, gibt es elementare Empfindungsfähigkeiten und Äußerungsfähigkeiten, die vom Rückenmark getragen werden. Zudem ist beides schwer von einander zu unterscheiden. Solange also der Mensch lebt, ist er auch bewusst. Der Begriff der „Bewusstlosigkeit“ ist eigentlich eine neurologische Fiktion. Bewusstlos ist der Mensch erst, wenn er wirklich tot, nicht etwa nur „hirntot“ ist. Wir sprechen ja beim Menschen auch zu Recht vom Bewusst-Sein, was uns signalisiert: menschliches Sein ist immer bewusstes Sein, in welch rudimentärer Form auch immer. Die Pflegeexpertin Christel Bienstein hat sich intensiv damit beschäftigt.

Gerade angesichts des Beispiels, das Sie beschrieben haben und bei der Beschreibung der Wahrnehmungsfähigkeit für diese Form der Kommunikation fällt einem natürlich das verbreitete Gegenteil auf: dass etwa im Falle von Terry Schiavo die Verantwortlichen das Mensch-Sein eines offensichtlich Lebenden geradezu wegdefiniert haben. – Bei allem Großartigen, das der Ansatz von Lévinas hat: ob ich mich tatsächlich vom Anderen ansprechen lasse, wird ja auch von meiner Empfänglichkeit abhängen. Es würde auch im Fall Ihrer Enkeltochter Menschen gegeben haben, die gesagt hätten: „da ist nichts mehr, was mich anspricht“ – erinnern wir uns nur an dieses schlimme Wort vom bloß „vegetativen Leben“ für schwerstkranke Menschen. Also, besteht nicht bei der Ethik vom Anderen her die Gefahr, dass wir uns den Unsensiblen, auch den Unwilligen ausliefern?

(lange Pause)

Im Sinne von Lévinas gilt der ethische Imperativ, in den mich der Andere ruft, bedingungslos. Dieses Absolute ist natürlich den wissenschaftlichen Ethikern zuviel, es wird als Überforderung empfunden. Levinas aber sagt: mit der Überforderung fängt es gerade an. Natürlich kann ich dem dann ausweichen oder mich widersetzen, denn meine Antwort auf den Anderen zählt nur, wenn sie eine freie ist.

Also es geht in diesem Angesprochen-Sein nicht um eine juristische Verbindlichkeit, sondern um eine Art Ur-Phänomen des Ethischen?

Ja, ich kann dieses Angesprochen-Sein eben nicht mit meinem egoistischen Willen wollen. Hier zählt nur der imperative Anruf des Anderen. Natürlich kommt dann im konkreten Handeln mit dem Dritten eine relativierende Ebene hinzu, ich wäge ab, ich handle nach meinen Möglichkeiten, beziehe auch andere ein – aber es ist notwendig, dass Lévinas im Ursprung diese Figur des Anderen so überbetont, denn wenn wir uns nur nach dem richten, was allgemein gültig und allgemein möglich ist, kommen wir nicht tief genug, und das Moment der Einzigartigkeit jedes einzelnen Menschen droht angesichts der ganzen konkreten Sachzwänge zu verwischen.

Über einen schwierigen Punkt möchten wir gern noch sprechen. Denn Lévinas betont immer sehr stark, um die Absolutheit des Anderen zu wahren, dass der Andere „unerreichbar“ und auch „unverstehbar“ in seiner Andersartigkeit ist und bleibt. Das hat aber doch auch etwas Resignatives, Begrenzendes, was jeden zu einer Insel macht. Ist das wirklich nötig, um die Unendlichkeit des Anderen zu denken?

Lévinas hat sich ja genau an dieser Stelle von Buber abgesetzt, den er wohl als zu harmoniesüchtig und idealistisch empfand. Beziehungen bestehen für Lévinas streng genommen zwischen Beziehungslosen. Damit ist gemeint: der Andere ist immer jemand, der absolut ist, und das heißt außerhalb meiner Verfügbarkeit – und damit dummerweise auch außerhalb meiner Verstehbarkeit. Er ist im wahrsten Sinne unendlich weit entfernt; der Andere ist unendlich! Und das Unendliche können wir nicht wirklich denken.

Aber wenn Sie vorhin von den vielen Beispielen für eine post-individualistische Kultur gesprochen haben, da geht es doch um Gemeinschaftlichkeit: wie soll die funktionieren ohne Verstehen des Anderen?

Der Andere wäre nicht mehr er selbst, wenn ich ihn umfassend erfassen könnte. Sein Kern muss etwas sein, was für mich unerreichbar ist. Mir ist übrigens aufgefallen, dass der Beginn unseres Grundgesetzes genau das meint: „Die Würde des Menschen ist unantastbar“! Das heißt: ich kann dich nicht antasten.

Also nicht im Sinne eines Nicht-Sollens, sondern eines Nicht-Könnens?

Genau. Und im Schutz dieser Anerkennung kann ich den Anderen dann auch lieben! Wenn ich aber vorher schon anfange, ihn zu verstehen und zu lieben, besteht immer die Gefahr, dass ich ihn in Wirklichkeit vereinnahme und mir aneigne. Und das Grundgesetz sagt ja, nachdem es zuerst die Unantastbarkeit festgestellt hat, was kann ich dann mit dem Anderen tun? Ich kann ihn zuerst achten. Achten steht für Abstand, Respekt. Erst dann kann ich Nähe riskieren und ihn auch „schützen“.

Das ist wirklich schön! Dennoch: der Würde-Begriff scheint diese unerbittliche Unüberbrückbarkeit vorauszusetzen.

Sagen wir lieber: die Reihenfolge der Schritte: erst Anerkennung der Unerreichbarkeit und dann erst Nähe, ist nicht umkehrbar.

Lassen Sie uns ein Gegenbeispiel bringen: in Ihrem Buch „Der gute Arzt“ zitieren Sie den Neonatologen Professor Loewenich, der im Umgang mit Frühstgeborenen beschreibt, dass er sozusagen mit seinen „Patienten“ spricht, sich von ihnen in die Verantwortung nehmen lässt. Er bekommt also eine Art Antwort von ihnen. Wie steht es da mit der Unüberbrückbarkeit?

Loewenich betont, ähnlich wie wir es bei unserer Dorothea erlebt haben, dass er sich im „Gespräch“ mit Frühstgeborenen von ihnen sagen lässt, was sie wollen – mit allen Irrtumsmöglichkeiten. Aber er geht davon aus, dass diese frühstgeborenen Wesen mit ihm kommunizieren, wie jedes lebende menschliche Wesen, und ihn in die Pflicht nehmen. Das kann man nur so machen, wenn man den Anderen zuallererst als den unendlich Anderen auffasst.

Wenn der Gedanke der Kommunikation hier nicht eine reine Konstruktion sein soll, dann muss es aber doch auch so etwas wie ein „Im-Anderen-Sein“ geben, eine Durchdringung oder zumindest Überbrückung der Existenzen.

Aber die vorgängige Beziehungslosigkeit muss gewahrt sein.

Als formale Voraussetzung leuchtet das ein, aber wenn es dann zur Öffnung für den Anderen kommt, kann die Unerreichbarkeit doch nicht mehr uneingeschränkt gelten.

Der Begriff des Anderen – großgeschrieben – meint doch gerade seine Unerreichbarkeit.

Aber wie kann ich dann je für den Anderen, nicht aus mir heraus, sondern aus dem Anderen heraus, handeln?

Der Andere teilt mir das ja mit, dass ich das soll.

Dazu muss er mich aber doch erreichen – und geschieht das nicht dadurch, dass er ein Stück weit wie aus mir heraus spricht?

Ich darf es nicht soweit kommen lassen, dass ich nur noch gelten lasse, was ich an dem Anderen wahrnehme. Deshalb ist mir der Erhalt dieser Unendlichkeit zwischen mir und dem Anderen so wichtig – und zwar in der ganz konkret gelebten „beziehungslosen Beziehung“.

Könnte es sich da nicht auch um ein Wechselgeschehen handeln? Was Sie beschreiben wäre der Ausgangspunkt, das unbedingte Gelten-Lassen des Anderen in seiner Andersartigkeit. Und dann gibt es vielleicht doch immer wieder auch so etwas wie Identifikation, wo ich mich auch mit dem Anderen je und je identifizieren muss, um ihm dann – aus sich heraus – gerecht werden zu können. Das ist doch in jeder partnerchaftlichen Beziehung auch so: in der gelingenden Gemeinsamkeit kann es so etwas wie eine gegenseitige Identifizierung geben, zum Beispiel wenn mir klar wird: „jetzt habe ich endlich erfahren, wie es in dir aussieht“ – könnte man so etwas erfahren, wenn die Unüberbrückbarkeit schlechthin gelten würde?

Ich hake ein bei der Wechselseitigkeit: die hätten wir ja so gerne, wie schön wäre das! Da sagt Lévinas: nein, die Beziehung ist eine doppelt asymmetrische – zunächst einmal. Das Gefälle besteht darin, dass der Andere mir sagt, was ich zu tun habe. Und das sagt er wahrscheinlich tausend Jahre lang, solange er nämlich gegen die tausendjährige Tradition anreden muss, die das immer umgekehrt sehen wollte: ich bin selbst das Aktionszentrum und weiß schon, was mit dir los ist. Wir sind verführt, uns den Anderen anzueignen, auch im Therapeutischen: ich bin das Subjekt, du das Objekt, ich will nur dein Bestes, ich stülpe mich über dich – das kennen wir ja.

Das kehrt Lévinas um: der Andere ist das Subjekt, ich werde durch ihn zum Objekt. Erst wenn man diese beiden ursprünglichen Asymmetrien anerkannt hat, dann kann es einem vielleicht auch widerfahren, dass man für eine kurze Zeit sogar das Gefühl hat: unsere Beziehung ist eine wechselseitige, symmetrische. Ich mache mir das immer ganz gern an der Beziehung zwischen mir und meiner Frau klar: das, was wir alle auf der Wunschebene haben möchten, ist das Partnerschaftliche, wir wollen „auf Augenhöhe“ miteinander umgehen, und die Erfahrung zeigt ja: es geht eben nicht. 90 Prozent der Kommunikation zwischen uns sieht so aus, dass mal ich dominant bin oder eben sie. Umso schöner ist es aber, wenn wir dann für kurze Momente wie im Vorübergehen – wie ja auch Gott immer nur im Vorübergehen da ist und uns anweht – vielleicht auch einmal einen Zustand von fünf oder auch zehn Minuten haben, wo wir wechselseitig in der Schwebe sind.

Interview von Axel Föller-Mancini und Jens Heisterkamp.
Publiziert u.a. auf der Website des Gestaltinstitutes Frankfurt.